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Erster Tag
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Der Name der Rose – Erster Tag
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ERSTER TAG
PRIMA
Worin man zu der Abtei gelangt und Bruder William großen Scharfsinn beweist.
Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November. In der Nacht hatte es ein wenig
geschneit, und so bedeckte ein frischer weißer Schleier, kaum mehr als zwei Finger hoch, den Boden. Noch
bei Dunkelheit, gleich nach Laudes, hatten wir talabwärts in einem Dorf die Messe gehört. Dann waren wir
aufgebrochen, um beim ersten Tageslicht in die Berge zu gehen.
Als wir den steilen Pfad erklommen, der sich die Hänge hinaufwand, sah ich zum erstenmal die Abtei.
Nicht ihre Mauern überraschten mich, sie glichen den anderen, die ich allerorten in der christlichen Welt
gesehen, sondern die Massigkeit dessen, was sich später als das Aedificium herausstellen sollte. Es war ein
achteckiger Bau, der aus der Ferne zunächst wie ein Viereck aussah (die höchstvollendete Form, Ausdruck
der Beständigkeit und Uneinnehmbarkeit der Stadt Gottes). Seine Südflanke ragte hoch über das Plateau
der Abtei, während die Nordmauern unmittelbar aus dem Berghang zu wachsen schienen gleich schräg im
Fels verwurzelten Bäumen. Von unten gesehen schien es geradezu, als verlängerte sich der Felsen zum
Himmel, um in einer gewissen Höhe, ohne sichtbaren Wandel in Färbung und Stoff, zum mächtigen Turm
zu werden – ein Werk von Riesenhand, geschaffen in größter Vertrautheit mit Himmel und Erde. Drei
Fensterreihen skandierten den Tripelrhythmus des Aufbaus, dergestalt daß, was physisch als Quadrat auf
der Erde stand, sich spirituell als Dreieck zum Himmel erhob. Beim Näherkommen sahen wir dann, daß aus
der quadratischen Grundform an jeder ihrer vier Ecken ein siebeneckiger Turm hervorsprang, der jeweils
fünf Seiten nach außen kehrte, so daß mithin vier der acht Seiten des größeren Achtecks in vier kleinere
Siebenecke mündeten, die sich nach außen als Fünfecke darstellten. Niemandem wird die herrliche
Eintracht so vieler heiliger Zahlen entgehen, deren jede einen erhabenen geistigen Sinn offenbart: acht die
Zahl der Vollendung jedes Vierecks, vier die der Evangelien, fünf die der Weltzonen, sieben die der Gaben
des Heiligen Geistes. Nach Umfang und Form erschien mir der Bau nicht unähnlich jenen gewaltigen
Burgen, die ich später im Süden der italienischen Halbinsel sah, Castel Ursino oder auch Castel del Monte,
aber dank seiner uneinnehmbaren Lage wirkte er düsterer noch als jene und war sehr wohl dazu angetan,
den Wanderer, der sich ihm nahte, erschauern zu lassen. Dabei konnte ich noch von Glück sagen, daß ich
ihn erstmals an einem klaren Herbstmorgen erblickte und nicht etwa an einem stürmischen Wintertag.
Jedenfalls flößte mir die Abtei alles andere als Gefühle der Heiterkeit ein, ich empfand bei ihrem Anblick
eher ein Schaudern und eine seltsame Unruhe. Und das waren, weiß Gott, keine Phantasiegespinste meiner
furchtsamen Seele, es war vielmehr die korrekte Deutung unzweifelhafter Vorzeichen, dem Fels
eingeschrieben seit jenem Tage, da einst die Riesen Hand an ihn legten, bevor noch die Mönche in ihrem
vergeblichen Streben sich erkühnten, ihn zum Hüter des göttlichen Wortes zu weihen.
Als nun unsere Mulis die letzte Steilkehre erklommen und wir an eine Kreuzung gelangten, an welcher
rechts und links zwei Seitenpfade begannen, verharrte mein Meister einen Augenblick und betrachtete
aufmerksam die Ränder des Weges, den Weg selbst und die Bäume darüber; eine Reihe von immergrünen
Pinien formte an dieser Stelle so etwas wie ein natürliches Dach, überzogen mit einer dünnen
Schneeschicht.
»Reiche Abtei«, sagte er. »Dem Abt gefällt es, glanzvoll in der Öffentlichkeit aufzutreten.«
Da ich es bereits gewohnt war, ihn zuweilen höchst sonderbare Bemerkungen machen zu hören, schwieg
ich dazu. Auch weil wir nach wenigen Schritten plötzlich Stimmen vernahmen und gleich darauf hinter einer
Wegbiegung ein aufgeregt gestikulierender Trupp von Mönchen und Laienbrüdern erschien. Einer von
ihnen trat sofort, als er uns erblickte, auf uns zu und begrüßte uns mit ausgesuchter Höflichkeit:
»Willkommen, meine Herren! Wundert Euch nicht, daß ich mir schon denken kann, wer Ihr seid, denn man
hat uns Euren Besuch angekündigt. Ich bin Remigius von Varagine, der Cellerar dieses Klosters. Und wenn
Ihr, wie ich vermute, Bruder William von Baskerville seid, muß der Abt sogleich unterrichtet werden. Du«,
befahl er einem aus seinem Gefolge, »lauf zurück und melde, daß unser Besuch sich der Einfriedung nähert!«
»Ich danke Euch, Herr Cellerar«, erwiderte freundlich mein Meister, »und Eure Höflichkeit schätze ich
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um so mehr, als Ihr, um mich zu begrüßen, Eure Suche unterbrochen habt. Aber macht Euch keine Sorgen,
das Pferd ist hier vorbeigelaufen und auf den rechten Seitenpfad abgebogen. Es kann nicht weit gekommen
sein, denn bei der Müllhalde wird es stehenbleiben. Es ist zu klug, um sich auf den Steilhang zu wagen.«
»Wann habt ihr es gesehen?« fragte der Cellerar.
»Wir haben es gar nicht gesehen, nicht wahr, Adson?« erwiderte William zu mir gewandt mit heiterer
Miene. »Aber wenn Ihr Brunellus sucht, so werdet Ihr das edle Tier dort finden, wo ich es Euch gesagt habe.«
Der Cellerar zögerte, schaute William verblüfft ins Gesicht, warf einen Blick in den Seitenpfad und fragte
schließlich: »Brunellus? Woher wißt Ihr?«
»Nun«, antwortete William, »es liegt doch auf der Hand, daß Ihr Brunellus sucht, das Lieblingspferd
Eures Abtes, den besten Renner in Eurem Stall; einen Rappen, fünf Fuß hoch, mit prächtigem Schweif; kleine
runde Hufe, aber sehr regelmäßiger Galopp; schmaler Kopf, feine Ohren, aber große Augen. Er ist nach
rechts gelaufen, ich sage es Euch, und auf jeden Fall solltet Ihr Euch beeilen.«
Der Cellerar verharrte noch einen Augenblick unschlüssig, gab dann den Seinen ein Zeichen und stürzte
sich ihnen voran in den Pfad zur Rechten, indes unsere Mulis sich wieder in Bewegung setzten. Von Neugier
gedrängt hob ich an, William mit Fragen zu überschütten, doch er bedeutete mir zu schweigen und die
Ohren zu spitzen. Und in der Tat vernahmen wir kurz darauf einen Freudenschrei, und wenig später
erschien an der Wegbiegung hinter uns wieder der Trupp, nun mit dem Rappen am Zügel. Sie holten uns
ein, betrachteten uns im Vorbeigehen, immer noch völlig verblüfft, von der Seite und eilten voraus zur Abtei.
Mich dünkte, daß William sogar seinen Schritt ein wenig verlangsamte, um ihnen mehr Zeit zu lassen, das
Vorgefallene zu berichten. Tatsächlich hatte ich auch schon bei anderen Gelegenheiten bemerkt, daß mein
guter Meister, wiewohl in jeder Hinsicht ein Mann von allerhöchster Tugend, zuweilen ein wenig dem Laster
der Eitelkeit nachgab, wenn es darum ging, seinen Scharfsinn zu beweisen, und nachdem ich ihn bereits als
gewandten Diplomaten schätzen gelernt, begriff ich nun: Er wollte sein Ziel erreichen als einer, dem der Ruf
eines außerordentlich klugen Mannes vorausgeht.
»Nun sagt mir aber«, konnte ich schließlich nicht an mich halten, »wie habt Ihr es angestellt, das alles zu
wissen?«
»Mein lieber Adson«, antwortete er, »schon während unserer ganzen Reise lehre ich dich, die Zeichen zu
lesen, mit denen die Welt zu uns spricht wie ein großes Buch. Meister Alanus ab Insulis sagte:
omnis mundi creatura
quasi liber et pictura
nobis est et speculum
und dabei dachte er an den unerschöpflichen Schatz von Symbolen, mit welchen Gott durch seine
Geschöpfe zu uns vom ewigen Leben spricht. Aber das Universum ist noch viel gesprächiger, als Meister
Alanus ahnte, es spricht nicht nur von den letzten Dingen (und dann stets sehr dunkel), sondern auch von
den nächstliegenden, und dann überaus deutlich. Ich schäme mich fast, dir zu wiederholen, was du doch
wissen müßtest: Am Kreuzweg zeichneten sich im frischen Schnee sehr klar die Hufspuren eines Pferdes ab,
die auf den Seitenpfad zu unserer Linken wiesen. Schön geformt und in gleichen Abständen voneinander,
lehrten sie uns, daß der Huf klein und rund war und der Galopp von großer Regelmäßigkeit, woraus sich auf
die Natur des Pferdes schließen ließ und daß es nicht aufgeregt rannte wie ein scheuendes Tier. An der Stelle,
wo die Pinien eine Art natürliches Dach bildeten, waren einige Zweige frisch abgeknickt, genau in fünf Fuß
Höhe. An einem der Maulbeersträucher – dort, wo das Tier kehrtgemacht haben mußte, um den rechten
Seitenpfad einzuschlagen mit stolzem Schwung seines prächtigen Schweifes – befanden sich zwischen den
Dornen noch ein paar tiefschwarze Strähnen . . . Und du wirst mir doch wohl nicht weismachen wollen, du
habest nicht gewußt, daß dieser Seitenpfad zur Müllhalde führt; schließlich hatten wir bereits von der
unteren Wegbiegung aus den breiten Strom der Abfälle steil am Hang zu Füßen des Ostturms gesehen, der
eine häßliche Spur im Schnee hinterließ. Und wie die Kreuzung lag, konnte der Pfad nur in diese Richtung
führen.«
»Gewiß«, sagte ich, »aber der schmale Kopf, die feinen Ohren, die großen Augen . . .?«
»Ich weiß nicht, ob der Rappe sie wirklich hat, aber ich bin überzeugt, daß die Mönche es glauben.
Meister Isidor von Sevilla lehrt, die Schönheit eines Pferdes verlange, ›ut sit exiguum caput, et siccum, pelle
prope ossibus adhaerente, aures breves et argutae, oculi magni, nares patulae, erecta cervix, coma densa et cauda,
ungularum soliditate fixa rotunditas‹. Wenn also das Pferd, dessen Spur ich gesehen, nicht wirklich das beste
wäre im Stall der Abtei, wie erklärst du dir dann, daß nicht nur die Stallburschen nach ihm suchten, sondern
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der Bruder Cellerar höchstpersönlich? Und ein Mönch, der ein Pferd für hervorragend hält, kann gar nicht
anders, als es – ungeachtet seiner natürlichen Formen – so zu sehen, wie es ihm die Auctoritates beschrieben.
Zumal« – und hierbei lächelte er maliziös in meine Richtung – »wenn er ein belesener Benediktiner ist . . .«
»Gut, gut«, sagte ich, »aber wieso ›Brunellus‹?«
»Möge der Heilige Geist dir etwas mehr Grips in den Kürbis geben, mein Sohn!« rief der Meister aus.
»Welchen Namen hättest du ihm denn sonst gegeben, wenn selbst der große Buridan, der nun bald Rektor
in Paris werden wird, keinen natürlicheren wußte, als er von einem schönen Pferd reden sollte?«
So war er, mein Herr und Meister. Er vermochte nicht nur im großen Buch der Natur zu lesen, sondern
auch in der Art und Weise, wie die Mönche gemeinhin die Bücher der Schrift zu lesen und durch sie zu
denken pflegten – und wie wir sehen werden, sollte ihm diese Fähigkeit in den folgenden Tagen noch
überaus nützlich werden. Im übrigen schien mir seine Erklärung so evident, daß meine Schmach, nicht von
allein darauf gekommen zu sein, rasch wettgemacht wurde durch meinen Stolz, nun teilzuhaben an dieser
Erkenntnis, und ich beglückwünschte mich gleichsam selbst zu meinem Scharfsinn. So groß ist die Kraft der
Wahrheit, daß sie – wie die Schönheit – sozusagen von selber um sich greift. Und gelobt sei der Name
unseres Herrn Jesus Christus für diese schöne Erkenntnis!
Doch zurück zu meiner Erzählung, ich schwatzhafter Greis verweile zu lange bei Marginalien. Berichtet
sei lieber, daß wir zum Tor der Abtei gelangten, und auf der Schwelle empfing uns der Abt, begleitet von
zwei Novizen, die ihm eine goldene Schale mit Wasser reichten. Und als wir von unseren Maultieren stiegen,
wusch er Bruder William die Hände, umarmte ihn und hieß ihn willkommen mit einem Kuß auf den Mund,
indes der Cellerar sich meiner annahm.
»Dank Euch, Abbo«, sagte Bruder William. »Es ist mir eine große Freude, den Fuß in Euer Hochwürden
Kloster zu setzen, dessen Ruhm diese Berge weit übersteigt. Ich komme im Namen Unseres Himmlischen
Herrn, und als seinem Diener habt Ihr mir Ehre erwiesen. Aber ich komme zugleich auch im Namen unseres
weltlichen Herrn, wie dieser Brief hier Euch lehren wird, und in seinem Namen danke ich Euch für Euren
Empfang.«
Der Abt nahm den Brief, warf einen Blick auf das kaiserliche Siegel und meinte, in jedem Falle seien vor
William schon andere franziskanische Brüder mit solchen Briefen gekommen (eine Antwort, die wieder
einmal bewies, so sagte ich mir nicht ohne heimlichen Anflug von Stolz, wie schwer es ist, einen
Benediktiner-Abt aus der Fassung zu bringen). Dann bat er den Bruder Cellerar, uns in unsere Unterkünfte
zu führen, während die Stallburschen sich unserer Tiere annahmen, und verließ uns mit dem Versprechen,
uns später Besuch abzustatten, wenn wir uns ein wenig erholt haben würden. So traten wir in den großen
Hof. Vor unseren Augen erstreckten sich die verschiedenen Gebäude der Abtei weitläufig über ein sanft
gewelltes Plateau, das in Form einer flachen Mulde (oder Alpe) unter dem Gipfel des Berges lag.
Auf die Anlage der Abtei werde ich noch verschiedentlich genauer zu sprechen kommen, hier mag ein
erster Überblick genügen. Am Torbau (der einzigen Öffnung in der Umfassungsmauer) begann eine von
Bäumen gesäumte Allee, die zur Kirche des Klosters führte. Zur Linken dieser Allee erstreckten sich in einem
weiten Halbkreis Obst- und Gemüsegärten (darunter, wie ich später erfuhr, auch der hortulus botanicus),
begrenzt von zwei flachen Gebäuden vor der nordwestlichen Mauer, dem Hospital und dem Badehaus. Im
Hintergrund, links von der Kirche und durch ein Gräberfeld von ihr getrennt, erhob sich gewaltig das
Aedificium. Das Nordtor der Kirche öffnete sich zum Südturm des massiven Quaders, der seinen Westturm
frontal dem Blick des Besuchers darbot, links mit der Umfassungsmauer verschmelzend und hinter ihr, hoch
gekrönt vom gerade noch sichtbaren Nordturm, den steil abfallenden Hang überragend. Rechts von der
Kirche, an ihre Südwand gelehnt, gruppierten sich einige Bauten um einen offenen Hof mit Kreuzgang –
ohne Zweifel das Dormitorium, die Wohnung des Abtes und die Unterkünfte der Pilger, zu denen wir nun
durch einen lieblichen Garten geleitet wurden. Rechter Hand öffnete sich eine weite Ebene bis zur südlichen
Umfassungsmauer, vor welcher wir, soweit die erwähnten Gebäude nicht unseren Blick verstellten, noch
eine Reihe flacher Bauten erblickten – Stallungen, Mühlen, Olivenpressen, die Unterkünfte der Laienbrüder
und wohl auch die Zellen der Novizen. Dank der Ebenmäßigkeit des Geländes war es den Erbauern dieser
heiligen Stätte gelungen, die Vorschriften der korrekten Ausrichtung akkurater noch zu befolgen, als es
Honorius Augustoduniensis oder Wilhelm Durandus je hätten verlangen können. Am Stand der Sonne
erkannte ich die genaue Ausrichtung des Kirchenportals nach Westen, mithin wiesen Chor und Altar nicht
minder genau nach Osten. Und die Morgensonne konnte genau im Moment ihres Aufgangs sowohl die
Mönche im Dormitorium wecken als auch das Vieh in den Ställen. Nie habe ich eine schönere und trefflicher
angelegte Abtei gesehen, obwohl ich später in meinem Leben durchaus nach Sankt Gallen kam und nach
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Cluny und nach Fontenay und in andere Abteien, die womöglich noch größer waren als diese, nicht aber so
wohlproportioniert. Von allen anderen jedoch unterschied sich diese durch die Massigkeit ihres
festungsartigen Aedificiums. Auch ohne den geübten Blick eines Baumeisters sah ich sofort, daß dieser Bau
wesentlich älter sein mußte als die übrigen, errichtet womöglich zu anderen Zwecken, so daß die restliche
Anlage wohl erst in späteren Zeiten hinzugefügt worden war – freilich derart harmonisch, daß die
Ausrichtung des Aedificiums sich jener der Kirche aufs schönste anpaßte, beziehungsweise umgekehrt.
Wahrlich, unter allen Künsten ist die Architektur in der Tat diejenige, die am kühnsten trachtet, in ihrem
Rhythmus jene Ordnung des Universums widerzuspiegeln, welche die Alten kosmos nannten, was soviel
heißt wie prachtvoll geschmückt, gleicht sie doch einem prächtigen Tier, das wir staunend bewundern ob
der Vollendung und herrlichen Proportion seiner Glieder. Und gelobt sei der Herr Unser Schöpfer, der – wie
Augustinus lehrt – alles so trefflich eingerichtet in Zahlen, Gewichten und Maßen!
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ERSTER TAG
TERTIA
Worin Bruder William ein lehrreiches Gespräch mit dem Abt führt.
Der Cellerar war ein feister Mensch mit groben, aber jovialen Zügen, kahl, aber noch rüstig, klein und
flink. Er geleitete uns zu unseren Zellen im Pilgerhaus. Genauer gesagt, er geleitete uns zu der für meinen
Meister vorgesehenen Zelle und versprach, am nächsten Tag auch mir eine freizumachen, denn ich sei
schließlich, wenngleich Novize, immerhin Gast der Abtei und folglich mit größter Ehrerbietung zu
behandeln. Für die erste Nacht müsse ich jedoch vorliebnehmen mit einer länglichen Nische in der
Zellenwand, die er mit frischem Stroh hatte auslegen lassen. Dort nächtigten, fugte er erklärend hinzu,
gelegentlich die Diener adliger Herren, wenn diese Wert darauf legten, während ihres Schlafes bewacht zu
werden.
Die Mönche brachten uns Wein und Käse, Oliven, Brot und süße Rosinen und ließen uns dann allein, auf
daß wir uns ausruhen könnten. Wir aßen und tranken mit großem Appetit. Mein Meister hatte nicht die
strenge Gewohnheit der Benediktiner, beim Mahle zu schweigen. Doch er sprach stets so klug und
erbaulich, daß es war, als läse ein Mönch aus den Viten der Heiligen vor.
Mich beschäftigte immer noch die Geschichte mit dem Rappen Brunellus, und so fragte ich William,
kaum daß wir allein waren: »Als Ihr die Spuren im Schnee und an den Zweigen laset, kanntet Ihr doch
Brunellus noch nicht. In gewisser Weise sprachen doch diese Spuren nur ganz allgemein von Pferden, oder
jedenfalls von einem Pferd dieser Art und Rasse. Könnte man daher nicht sagen, daß uns das Buch der Natur
lediglich abstrakte Wesenheiten verkündet, wie zahlreiche ehrwürdige Theologen lehren?«
»Keineswegs, lieber Adson«, erwiderte mir der Meister. »Gewiß gaben mir jene Spuren für sich
genommen nur das Pferd als verbum mentis in den Sinn, und als solches hätten sie es mir überall in den Sinn
gegeben. Doch an diesem Ort und zu dieser Stunde des Tages lehrten sie mich, daß zumindest eines von
allen denkbaren Pferden dort vorbeigekommen sein mußte. Also befand ich mich bereits auf halbem Wege
zwischen der Vorstellung des Begriffes ›Pferd‹ und der Erkenntnis eines einzelnen Pferdes. Und in jedem
Falle war mir das, was ich vom Pferd im allgemeinen wußte, durch eine besondere Spur ins Bewußtsein
gerufen worden. Ich war also in diesem Augenblick sozusagen gefangen zwischen der Besonderheit jener
Spur und meiner Unkenntnis, die gerade erst angefangen hatte, die noch recht blasse Gestalt einer
allgemeinen Vorstellung anzunehmen. Wenn du etwas von weitem siehst und nicht weißt, was es ist, wirst
du dich damit begnügen, es als einen Körper von Ungewisser Ausdehnung zu definieren. Bist du näher
herangekommen, so wirst du es vielleicht als ein Tier definieren, wenn du auch noch nicht weißt, ob es ein
Pferd oder ein Esel ist. Hast du dich ihm noch mehr genähert, so wirst du sagen können, daß es ein Pferd
ist, wenn du auch noch nicht weißt, ob es Brunellus oder Favellus ist. Erst wenn du nahe genug
herangekommen bist, wirst du erkennen, daß es Brunellus ist (beziehungsweise dieses bestimmte und kein
anderes Pferd, wie immer du es nennen willst). Und das ist dann schließlich die volle Erkenntnis, die
Wahrnehmung des Einmaligen. So war ich vor einer Stunde noch darauf gefaßt, jedem denkbaren Pferd zu
begegnen, aber nicht etwa aufgrund der Weiträumigkeit meines Geistes, sondern aufgrund der
Beschränktheit meiner Wahrnehmung. Und der Wissensdurst meines Geistes wurde erst in dem Augenblick
gestillt, als ich das einzelne Pferd erblickte, das die Mönche am Zügel führten. Da erst wußte ich wirklich,
daß meine vorausgegangenen Überlegungen mich der Wahrheit nahegebracht hatten. Die Ideen, mit deren
Hilfe ich mir bis zu diesem Moment ein Pferd vorgestellt hatte, das ich noch niemals zuvor gesehen, waren
mithin reine Zeichen, wie die Spuren im Schnee nur Zeichen der allgemeinen Idee des Pferdes waren – und
Zeichen oder Zeichen von Zeichen benutzen wir nur, solange wir keinen Zugang zu den Dingen selbst
haben.«
Schon früher hatte ich William mit großer Skepsis von den allgemeinen Ideen sprechen hören und mit
großem Respekt von den einzelnen Dingen. Und damals wie in den folgenden Tagen schien mir, daß diese
Neigung sowohl mit seiner britannischen Herkunft als auch mit seinem Franziskanertum zu tun hatte. An
diesem Tage jedoch war er zu erschöpft, um sich auf theologische Dispute einzulassen, und so verzog ich
mich in meinen Winkel, hüllte mich in meine Decke und versank alsbald in einen tiefen Schlaf.
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Wäre jemand hereingekommen, er hätte mich für ein lebloses Bündel halten können. Und das tat denn
wohl auch der Abt, als er um die dritte Stunde in unsere Zelle trat, um mit William zu sprechen. So kam es,
daß ich unbemerkt ihr erstes Gespräch mitanhören konnte – ohne Arglist und böse Absicht, denn es wäre,
nachdem ich nun einmal aufgewacht war, gewiß unhöflicher gewesen, mich dem Besucher plötzlich zu
offenbaren, als in Demut still zu verharren, wie ich es tat.
Eintrat also Pater Abbo, der Abt. Er entschuldigte sich für die Störung, erneuerte seinen
Willkommensgruß und sagte, er müsse mit William unter vier Augen sprechen über eine sehr ernste Sache.
Zunächst aber wolle er ihn beglückwünschen zu der Geschicklichkeit seines Verhaltens in der Geschichte
mit dem Pferd, wie er das bloß angestellt habe, so genaue Angaben über ein Tier zu machen, das er niemals
zuvor gesehen. William erklärte ihm knapp und ohne viel Aufhebens seinen Gedankengang, und der Abt
zeigte sich aufs höchste erfreut über soviel Scharfsinn. Freilich habe er auch nichts anderes erwartet von
einem Manne, dem der Ruf so großer Klugheit vorangehe. Im übrigen habe er einen Brief vom Abt in Farfa
erhalten, in dem nicht nur von der Mission die Rede sei, mit welcher William vom Kaiser betraut worden
(und über die in den nächsten Tagen noch zu sprechen sein werde), sondern auch davon, daß mein kluger
Meister in England und Italien als Inquisitor tätig gewesen sei und sich in einer Reihe von Prozessen durch
große Klarsicht in Verbindung mit großer Menschlichkeit hervorgetan habe.
»Sehr gefreut hat es mich zu erfahren«, fügte Abbo hinzu, »daß Ihr Euch in zahlreichen Fällen für die
Unschuld des Angeklagten entschieden habt. Gewiß glaube ich – und in diesen schlimmen Zeiten mehr
denn je – an die Präsenz des Bösen in allen menschlichen Dingen«, und bei diesen Worten blickte er sich
unwillkürlich um, als vermutete er den bösen Feind in einem Winkel der Zelle, »aber ich glaube auch, daß
der Böse oft über Umwege tätig wird. Und ich weiß, daß er seine Opfer dazu zu bringen vermag, ihre
Untaten so zu vollführen, daß die Schuld auf einen Gerechten fällt, wobei es ihm dann ein besonderes
Vergnügen ist, den Gerechten anstelle des Sukkubus brennen zu sehen. Leider sind viele Inquisitoren
bemüht, ihren Eifer unter Beweis zu stellen und dem Angeklagten um jeden Preis ein Geständnis zu
entlocken, weil sie meinen, ein guter Inquisitor sei nur, wer jeden Prozeß mit einem Schuldspruch beendet
. . .«
»Auch Inquisitoren können Werkzeuge des Teufels sein«, warf William ein.
»Schon möglich«, gab Abbo vorsichtig zu, »denn die Pläne des Allerhöchsten sind unerforschlich. Doch
liegt es mir fern, auch nur den Schatten eines Verdachts auf so wohlverdiente Männer zu werfen. Im
Gegenteil, ich wende mich heute an Euch als einen von ihnen. In dieser Abtei ist nämlich etwas geschehen,
das die Aufmerksamkeit und den Rat eines Mannes von Eurem Scharfsinn und Eurer Umsicht erheischt. Von
Eurem Scharfsinn, um es aufzuklären, und von Eurer Umsicht, um es hernach (gegebenenfalls) wieder
gnädig zuzudecken. Denn oft kommt man nicht umhin, die Schuld eines Mannes herauszufinden, der ein
Vorbild an Heiligkeit sein sollte, aber dabei so vorzugehen, daß man den Grund des Übels beseitigen kann,
ohne den Schuldigen damit der öffentlichen Verachtung preiszugeben. Wenn ein Hirte fehlgeht, muß er von
den anderen Hirten isoliert werden. Aber wehe, wenn die Herde an ihren Hirten zu zweifeln begönne.«
»Ich verstehe«, sagte William. Bereits bei früheren Gelegenheiten hatte ich bemerkt, daß er, wenn er sich
so verständnisvoll äußerte, in dieser höflichen Formel meist einen Dissens oder jedenfalls ein Erstaunen
verbarg.
»Deswegen«, fuhr der Abt fort, »bin ich der Meinung, daß Fälle, die den Fehltritt eines Hirten betreffen,
stets nur Männern wie Euch anvertraut werden sollten – Männern, die nicht nur gut und böse zu
unterscheiden wissen, sondern auch opportun und nichtopportun. Es freut mich, daß Ihr immer nur dann
verurteilt habt, wenn . . .«
». . . der Angeklagte schlimme Verbrechen begangen hatte wie Vergiftungen, Verführung unschuldiger
Kinder und andere Verruchtheiten, die auszusprechen meine Lippen nicht wagen . . .«
». . . daß Ihr immer nur dann verurteilt habt«, fuhr der Abt unbeirrt von der Unterbrechung fort, »wenn
die Präsenz des Dämons so offenkundig für jedermann war, daß man nicht anders hätte verfahren können,
da Nachsicht skandalöser gewesen wäre als das Verbrechen selbst.«
»Wenn ich jemanden schuldig gesprochen habe«, präzisierte William, »dann weil er tatsächlich
Verbrechen so schlimmer Art begangen hatte, daß ich ihn guten Gewissens dem weltlichen Arm überlassen
konnte.«
Der Abt schien ein wenig verunsichert. »Warum sprecht Ihr so beharrlich von schlimmen Verbrechen,
ohne Euch zu ihren teuflischen Ursachen äußern zu wollen?«
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»Weil das Schlußfolgern von den Wirkungen auf die Ursachen eine so schwierige Sache ist, daß allein
Gott der Richter sein kann. Uns Menschen fällt es bereits dermaßen schwer, einen ursächlichen
Zusammenhang herzustellen zwischen einer so offenkundigen Wirkung wie etwa dem Brand eines Baumes
und dem Blitz, der ihn verbrannte, daß der Versuch, lange Ketten von Ursachen und Wirkungen zu
konstruieren, mir ebenso wahnhaft erscheint wie der Versuch, einen Turm zu bauen, der bis zum Himmel
reicht.«
»Der Doktor von Aquin«, gab Abbo zu bedenken, »scheute sich nicht, mit der Kraft seiner bloßen
Vernunft die Existenz des Allerhöchsten zu beweisen, indem er von einer causa zur anderen zurückging bis
zu der durch nichts verursachten causa prima.«
»Wer bin ich«, erwiderte demütig Bruder William, »daß ich dem hochgelahrten Aquinaten
widersprechen könnte? Auch wird ja sein Beweis der Existenz Gottes durch so viele andere Zeugnisse
unterstützt, daß seine Argumentation sich von alledem nur bestärkt sieht. Gott spricht zu uns im Innersten
unserer Seele, wie bereits Augustinus wußte, und Ihr, Abbo, hättet das Lob des Herrn gesungen und die
Evidenz seiner Gegenwart anerkannt, auch wenn der große Thomas nicht . . .« Er unterbrach sich und fugte
hinzu: »So denke ich jedenfalls.«
»Oh, gewiß doch«, beeilte der Abt sich zu versichern – und in dieser sehr feinen Weise beendete mein
kluger Meister eine scholastische Diskussion, die ihn sichtlich nicht sehr zu reizen vermochte. Dann ergriff
er wieder das Wort:
»Kommen wir auf die Prozesse zurück. Stellt Euch vor, ein Mann ist durch Vergiftung getötet worden.
Das ist eine empirische Tatsache. Angesichts gewisser untrüglicher Zeichen kann ich mir durchaus
vorstellen, daß ein anderer Mann die Vergiftung verursacht hat. An derart einfachen Ketten von Wirkung
und Ursache kann mein Verstand sich mit einem gewissen Selbstvertrauen entlangbewegen und den
Giftmischer dingfest zu machen versuchen. Wie aber kann ich die Kette nun dadurch komplizieren, daß ich
mir als Anstifter der bösen Tat eine weitere, diesmal nicht menschliche, sondern teuflische Kraft vorstelle?
Nicht daß dergleichen unmöglich wäre, auch der Teufel hinterläßt klare Zeichen auf seinem Weg, wie es
Euer Rappe Brunellus tat. Aber warum sollte ich danach suchen? Genügt es nicht, wenn ich weiß, daß der
Schuldige dieser bestimmte Mensch ist, um ihn dem weltlichen Arm zu übergeben? In jedem Falle wird er
für seine Tat mit dem Tode bestraft, Gott möge ihm vergeben.«
»Aber mich dünkt, daß Ihr bei einem Prozeß vor drei Jahren in Kilkenny, bei dem mehrere Personen
schändlichster Untaten angeklagt waren, den Eingriff des Teufels durchaus nicht geleugnet habt, nachdem
die Schuldigen einmal gefunden waren.«
»Aber ich habe ihn auch nicht mit offenen Worten behauptet. Ich habe ihn nicht geleugnet, das ist wahr.
Wer bin ich denn, daß ich mir Urteile über das Wirken des Bösen erlauben dürfte? Zumal in Fällen« – und
auf diesem Gedanken schien William insistieren zu wollen – »in denen jene, die das Inquisitionsverfahren
eröffnet haben, der Bischof, die Richter der Stadt und das ganze Volk, vielleicht sogar die Beschuldigten
selbst den Nachweis einer Präsenz des Bösen offenbar sehnlichst wünschen? Vielleicht ist das überhaupt der
einzige wahre Beweis für das Wirken des Teufels: die Intensität, mit welcher alle Beteiligten in einem
bestimmten Augenblick danach verlangen, ihn am Werk zu sehen . . .«
»Ihr wollt also sagen«, fragte der Abt ein wenig beunruhigt, »daß in vielen Prozessen der Teufel nicht nur
im Schuldigen sein Unwesen treibe, sondern womöglich auch und vor allem in den Richtern?«
»Wie könnte ich wagen, so etwas zu behaupten?« fragte William zurück, und die Frage war offenkundig
so formuliert, daß der Abt verstummen mußte – woraufhin William sein Schweigen nutzte, um dem
Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Im Grunde sind das doch längst vergangene Dinge. Ich habe jene
noble Tätigkeit aufgegeben, und wenn ich es tat, so war es der Wille des Herrn . . .«
»Ohne Zweifel«, gab Abbo zu.
». . . und nun beschäftige ich mich mit anderen delikaten Fragen. Und gern würde ich mich mit der
beschäftigen, die Euch quält, wenn Ihr mir sagen würdet, um was es geht.«
Wie mir schien, war es dem Abt ganz recht, die Diskussion beenden und auf sein Problem kommen zu
können. Jedenfalls begann er nun umständlich und mit großer Vorsicht in der Wahl seiner Worte von einem
seltsamen Vorfall zu berichten, der sich wenige Tage vor unserer Ankunft zugetragen und, wie er sagte,
große Unruhe unter den Mönchen ausgelöst habe. Wenn hier davon die Rede sein solle, so im Wissen, daß
William ein großer Kenner der menschlichen Seele und der Wege des Bösen sei, und daher in der Hoffnung,
daß er vielleicht einen Teil seiner kostbaren Zeit damit verbringen möge, Licht zu bringen in eine sehr dunkle
und schmerzliche Sache. Vorgefallen sei nämlich, daß Bruder Adelmus von Otranto, ein Mönch von noch
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jungen Jahren, aber gleichwohl schon bekannt als exzellenter Miniaturenmaler, der die Manuskripte der
Klosterbibliothek mit wunderbaren Vignetten zu schmücken pflegte, eines Morgens von einem Ziegenhirten
tot auf dem Grunde der Schlucht unter dem Ostturm des Aedificiums gefunden worden sei. Da die anderen
Mönche ihn während der Komplet im Chor noch gesehen, nicht aber mehr bei der Frühmette, müsse er wohl
in den dunkelsten Stunden der Nacht in die Tiefe gestürzt sein. Es sei eine stürmische Nacht gewesen, eisige
Schneeflocken, hart wie Hagelkörner, seien von einem scharfen Nordwind durch die Luft gewirbelt worden.
Durchnäßt vom Schnee, der erst getaut und dann zu Eisklumpen gefroren sei, habe man schließlich die
Leiche des Unglücklichen am Fuße des Steilhangs gefunden, aufgeschürft von den Felsvorsprüngen, über
die er hinabgestürzt. Ein elender und schlimmer Tod, Gott möge sich seiner erbarmen. Wegen der vielen
Stöße, die der Körper offensichtlich beim Sturz erlitten, sei es nicht leicht gewesen, den Punkt zu bestimmen,
von dem er gefallen sein mußte. Sicher aber aus einem der Fenster, die sich in drei Reihen an drei Seiten des
großen Turmes zum Abgrund öffneten.
»Wo habt Ihr den Toten begraben?« fragte William.
»Auf dem Friedhof natürlich«, antwortete der Abt. »Ihr habt ihn vielleicht gesehen, er erstreckt sich
neben dem Garten von der Nordseite der Kirche zum Aedificium.«
»Ich verstehe«, sagte William, »und ich begreife nun Euer Problem. Wenn der Ärmste, Gott behüte,
Selbstmord begangen hätte (denn es war ja kaum anzunehmen, daß er aus Versehen hinuntergefallen ist),
so hättet Ihr am folgenden Morgen eins dieser Fenster offen vorfinden müssen, aber Ihr fandet sie alle
wohlverschlossen, und vor keinem von ihnen fanden sich Wasserspuren.«
Wie ich bereits gesagt habe, war der Abt ein Mann von großer Selbstbeherrschung und diplomatischer
Unerschütterlichkeit, aber diesmal konnte er seine Überraschung nicht verbergen und schaute so verblüfft
drein, daß ihm keine Spur von jener Würde blieb, die sich laut Aristoteles einem ernsthaften und gesetzten
Manne ziemt. »Wer hat Euch das gesagt?«
»Nun, Ihr selbst habt es mir gesagt«, erwiderte William. »Wäre ein Fenster offengestanden, so hättet Ihr
doch gleich angenommen, daß der Unglückliche sich hinabgestürzt haben mußte. Nach dem, was ich von
außen sehen konnte, handelt es sich um große Fenster mit Butzenscheiben, und Fenster dieser Art pflegen
sich in Mauern von solcher Stärke gewöhnlich nicht auf ebener Erde zu öffnen. Hättet Ihr also eines von
ihnen offen gefunden, so wäre Euch – da auszuschließen war, daß der Unglückliche sich hinausgebeugt und
dabei das Gleichgewicht verloren hatte – nur der Gedanke an Selbstmord geblieben. Und in diesem Falle
hättet Ihr ihn nicht in geweihter Erde begraben. Da Ihr ihn aber christlich begraben habt, müssen die Fenster
geschlossen gewesen sein, und da sie geschlossen waren und mir noch nie, nicht einmal in Hexenprozessen,
ein sündhaft aus dem Leben Geschiedener begegnet ist, dem Gott oder der Teufel es gestattet hätten, aus
der Tiefe wieder heraufzuspringen, um die Spuren seiner sündigen Tat zu verwischen, liegt es auf der Hand,
daß der vermeintliche Selbstmörder wohl in Wahrheit eher gestoßen worden sein muß, sei's von der Hand
eines Menschen oder von der eines Dämons. Und nun fragt Ihr Euch, wer das gewesen sein mag, der den
armen Bruder Adelmus, ich will nicht sagen hinuntergestürzt, aber doch mindestens irgendwie seines
Willens beraubt und dann, vielleicht in betäubtem Zustand, auf das Fenstersims gehievt haben könnte, und
Ihr seid bestürzt, weil offenbar eine böse Macht, sei sie natürlich oder übernatürlich, nun in der Abtei
umgeht.«
»So ist es . . .«, gab der Abt zu, und es war nicht ganz klar, ob er damit Williams Worte bestätigte oder
sich selber Rechenschaft über die Richtigkeit dessen ablegte, was mein kluger Meister so scharfsinnig
dargelegt hatte. »Aber woher wißt Ihr, daß wir unter keinem der Fenster Wasserspuren fanden?«
»Weil Ihr mir gesagt habt, daß in jener Nacht ein heftiger Nordwind tobte. Folglich konnte das Wasser
nicht gegen Fenster gedrückt werden, die sich nach Osten öffnen.«
»Wahrlich, man hat mir noch nicht genug berichtet von Eurem Scharfsinn«, rief der Abt aus. »Ihr habt
recht, es war tatsächlich kein Wasser da, und nun weiß ich auch, warum. Es hat sich alles so zugetragen, wie
Ihr sagt. Versteht Ihr jetzt meine Besorgnis? Es wäre schon schlimm genug, wenn einer meiner Mönche sich
mit der schrecklichen Sünde des Suizids befleckt hätte. Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß ein
anderer von ihnen sich mit einer mindestens ebenso schrecklichen Sünde befleckt hat. Und wenn es nur das
wäre . . .«
»Wieso meint Ihr, es müsse einer der Mönche gewesen sein? In Eurer Abtei leben doch auch zahlreiche
andere Menschen, Stallburschen, Ziegenhirten, Knechte . . .«
»Gewiß, es ist zwar eine kleine, aber reiche Abtei«, nickte der Abt mit unverhohlenem Stolz.
»Hundertfünfzig Knechte für sechzig Mönche. Aber die Sache hat sich im Aedificium zugetragen. Im
Aedificium befinden sich, wie Ihr vielleicht schon wißt, zwar unten die Küche und das Refektorium, aber in
Der Name der Rose – Erster Tag
27
den beiden Obergeschossen das Skriptorium und die Bibliothek. Nach dem Abendmahl wird das ganze
Gebäude geschlossen, und eine strenge Regel verbietet jedem, es zu betreten.« Die Frage Williams erratend,
fügte er rasch hinzu: »Auch den Mönchen, aber . . .«
»Aber?«
»Aber ich halte es für ausgeschlossen, ganz und gar ausgeschlossen, versteht Ihr, daß einer der Knechte
den Mut aufbrächte, das Aedificium nachts zu betreten.« Ein Anflug von herausforderndem Lächeln blitzte
in seinen Augen auf, erlosch aber sogleich wieder. »Sagen wir: sie hätten viel zu große Angst, wißt Ihr . . .
Manchmal müssen Verbote für die Laien mit einer gewissen Drohung unterstrichen werden, etwa mit der
Voraussage, daß dem Ungehorsamen etwas Schreckliches widerfahren könnte, etwas Übernatürliches
selbstverständlich. Ein Mönch dagegen . . .«
»Verstehe.«
»Nicht nur, was Ihr meint. Ein Mönch könnte noch andere Gründe haben, sich an einen verbotenen Ort
zu wagen. Gründe, die – wie soll ich sagen? – die begründet sein mögen, wenn auch wider die Regel . . .«
William bemerkte das Unbehagen des Abtes und warf eine Frage ein, die ihm wohl aus der Klemme
helfen sollte, aber sein Unbehagen nur noch verstärkte: »Als Ihr eben von der Möglichkeit eines Mordes
spracht, sagtet Ihr: Und wenn es nur das wäre. Was meintet Ihr damit?«
»Sagte ich das? Nun ja, man tötet nicht ohne einen Grund, wie pervers er auch sein mag, und ich zittere
bei dem Gedanken an die Perversität der Gründe, die einen Mönch dazu bewegen können, einen Mitbruder
umzubringen. Das meinte ich.«
»Sonst nichts?«
»Nichts, was ich Euch sagen könnte.«
»Meint Ihr damit: Nichts, was Ihr mir sagen dürftet?«
»Ich bitte Euch, Bruder William, Frater William!« Der Abt betonte beide Anreden gleichermaßen. William
errötete heftig und murmelte:
»Eris sacerdos in aeternum.«
»Danke«, antwortete der Abt.
Oh, mein Gott, welch schreckliches Geheimnis war es, an das meine beiden unvorsichtigen Herren in
diesem Augenblick rührten, der eine von Angst getrieben und der andere von Neugier? Denn wiewohl erst
Novize und noch auf dem Wege zu den Mysterien des heiligen Priesteramtes, begriff selbst ich unerfahrenes
Kind, daß der Abt offenbar etwas wußte, was er unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses erfahren hatte –
etwas besonders Schlimmes und Sündhaftes, das mit dem tragischen Ende des Mönches Adelmus zu tun
haben könnte. Und das war vielleicht auch der Grund, warum er nun Bruder William bat, ein Geheimnis
aufzudecken, das er ahnte, aber niemandem offenbaren durfte, wobei er hoffte, mein scharfsinniger Meister
werde kraft seines Verstandes erhellen, was er, der Abt, kraft des hehren Gebotes der Barmherzigkeit im
dunkeln lassen mußte.
»Also gut«, sagte William schließlich. »Darf ich den Mönchen Fragen stellen?«
»Ihr dürft.«
»Kann ich mich frei bewegen in der Abtei?«
»Ich gebe Euch die Erlaubnis.«
»Werdet Ihr mir die Aufgabe coram monachis übertragen?«
»Noch heute abend.«
»Gut, aber ich werde sofort beginnen, noch ehe die Mönche wissen, mit welcher Aufgabe Ihr mich
betraut habt. Ich wollte ohnehin schon seit langem – und das ist nicht der letzte Grund meines Besuches hier
– Eure Bibliothek besichtigen, von der man bewundernd in allen Klöstern der Christenheit spricht.«
Der Abt fuhr auf, tat fast einen Satz, und seine Züge verhärteten sich. »Ihr könnt Euch frei in der ganzen
Abtei bewegen, wie ich gesagt habe. Nicht aber im Obergeschoß des Aedificiums, nicht in der Bibliothek!«
»Warum nicht?«
»Ich hätte es Euch vorher erklären sollen, aber ich dachte, Ihr wüßtet es schon. Unsere Bibliothek ist nicht
wie die anderen . . .«
Der Name der Rose – Erster Tag
28
»Ich weiß, daß sie mehr Bücher als jede andere Bibliothek der Christenheit hat. Ich weiß, daß verglichen
mit Euren Beständen diejenigen der Abteien von Bobbio oder Pomposa, von Cluny oder Fleury eher dem
Spielzimmer eines Kindes gleichen, das gerade lesen zu lernen beginnt. Ich weiß, daß die sechstausend
Codizes, derer sich Novalesa vor mehr als einem Jahrhundert rühmte, im Vergleich zu den Euren wenig sind,
und vielleicht befinden sich viele von jenen nun hier. Ich weiß, daß Eure Abtei das einzige Licht ist, das die
Christenheit den sechsunddreißig Bibliotheken von Bagdad, den zehntausend Handschriften des Wesirs Ibn
al-Alkami entgegenzusetzen hat, daß die Zahl Eurer Bibeln den zweitausendvierhundert Koranabschriften
gleichkommt, derer sich Kairo rühmt, und daß die Realität Eurer Schätze eine glänzende Widerlegung der
stolzen Legende jener Ungläubigen darstellt, die Vorjahren behaupteten (vertraut mit dem Fürsten der Lüge,
wie sie es sind), die Bibliothek von Tripolis besitze sechs Millionen Bände und sei bewohnt von
achtzigtausend Kommentatoren und zweihundert Schreibern.«
»So ist es, gelobt sei der Herr!«
»Ich weiß, daß unter Euren Mönchen viele sind, die von weither kommen aus anderen Abteien; manche
für kurze Zeit, um ein Manuskript zu kopieren, das anderswo unauffindbar ist, und die Kopie mit nach
Hause zu nehmen, nicht ohne Euch zum Dank eine andere kostbare Handschrift gebracht zu haben, die Ihr
dann kopieren laßt und Eurem Schatz einverleibt; andere bleiben für lange Jahre, manche gar bis zu ihrem
Tod, da sie nur hier die Werke finden, die ihre Forschung erleuchten. So habt Ihr unter Euch Franzosen,
Hispanier, Germanen, Dakier und Griechen. Ich weiß auch, daß Kaiser Friedrich Euch vor vielen Jahren
ersuchte, ein Buch über die Prophezeiungen des legendären Zauberers Merlin zu kompilieren und ins
Arabische zu übersetzen, auf daß er es dem Sultan von Ägypten zum Geschenk machen könne. Ich weiß
schließlich auch, daß selbst ein so ruhmreiches Kloster wie Murbach in unseren traurigen Zeiten keinen
einzigen Schreiber mehr hat und daß in Sankt Gallen nur noch wenige Mönche leben, die des Schreibens
kundig sind, denn heutzutage sind es die Städte, in denen sich Zünfte und Gilden ausbreiten, bestehend aus
weltlichen Schreibern, die im Dienst und Auftrag der Universitäten arbeiten, so daß es allein noch Eure Abtei
ist, die tagtäglich den Ruhm Eures Ordens erneuert, was sage ich: mehrt und zu immer neuen Höhen treibt!«
»Monasterium sine libris«, zitierte versonnen der Abt, »est sicut civitas sine opibus, castrum sine numeris,
coquina sine suppellectili, mensa sine cibis, hortus sine herbis, pratum sineßoribus, arbor sine foliis . . . Ja, unser
Orden! Als und solange er wuchs am Doppelgebot der Arbeit und des Gebetes, war er Licht für die ganze
bekannte Welt, Hort des Wissens, Zuflucht einer antiken Bildung, die unterzugehen drohte in
Feuersbrünsten, Plünderungen und Erdbeben, Brutstätte einer neuen Schrift und Pflegestätte der alten . . .
Oh, Ihr wißt, wir leben in finsteren Zeiten, und erst vor wenigen Jahren – es treibt mir die Zornes- und
Schamröte ins Gesicht, wenn ich daran denke – sah sich das Konzil zu Vienne veranlaßt, ausdrücklich zu
betonen, daß jeder Mönch verpflichtet ist, sich an die Gebote zu halten! Ora et labora . . ., doch wie viele
unserer Abteien, die noch vor zweihundert Jahren blühende Zentren der Größe und Heiligkeit waren, sind
heute Zufluchtsstätten für Faulpelze! Mächtig ist der Orden noch immer, doch der Gestank der Städte kreist
unsere heiligen Stätten mehr und mehr ein, das Volk Gottes ist heute dem Handel zugetan und den Händeln
und Fehden zwischen Parteien, Klüngeln und Cliquen. Drunten in den dicht besiedelten Ebenen, wo der
Geist der Heiligkeit keine Herberge findet, spricht man nicht nur die Volkssprache (von Laien kann man
schließlich nichts anderes erwarten), sondern man schreibt sie bereits! Möge nie eins dieser Bücher in unsere
Mauern gelangen, würde es doch zwangsläufig zu einem Herd und Nährboden der Häresie! Die Sünden der
Menschen haben die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben, schon ist die Welt durchdrungen vom
Abgründigen, das aus dem Abgrund hervorsteigt. Und wie Honorius sagte, werden morgen die Körper der
Menschen kleiner sein als es heute die unseren sind, so wie heute die unseren kleiner sind als es einst die
der Alten waren. Mundus senescit, die Welt vergreist! Wenn Gott unserem Orden noch einen Auftrag
gegeben, so ist es heute der, sich dieser Fahrt in den Abgrund entgegenzustemmen, den Schatz des Wissens,
den unsere Väter uns anvertraut haben, zu wahren, zu hüten und zu verteidigen. Die göttliche Vorsehung
hat gewollt, daß die Weltregierung, die ursprünglich im Osten saß, sich mit dem Herannahen der Zeit immer
mehr gen Westen verlagert hat, um uns darzutun, daß sich die Welt ihrem Ende nähert, hat doch der Lauf
der Dinge bereits die Grenzen des Universums erreicht. Doch bis das Jahrtausend endgültig zerfällt und jene
bestia immunda, die wir Antichrist nennen, zum vollen, wenn auch nur kurzen Triumph gelangt, ist es unsere
Aufgabe und Mission, den Schatz der christlichen Welt zu wahren und das Wort Gottes zu hüten, wie er es
den Propheten und Aposteln offenbarte, wie es die Väter getreu wiederholten, ohne ein Jota zu ändern, und
wie es in den Schulen ausgelegt wurde – mag sich heute auch in den Schulen die Schlange der Hoffart, des
Neides und der Unvernunft einnisten. Noch sind wir in dieser Abenddämmerung Flamme und hohes
Leuchtzeichen am Horizont. Und solange diese Mauern stehen, werden wir Wahrer und Wächter bleiben
des göttlichen Wortes.«
»Wohlan, so sei es«, nickte William andächtig. »Aber was hat das alles damit zu tun, daß man die
Der Name der Rose – Erster Tag
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Bibliothek nicht besichtigen darf?«
»Seht, Bruder William«, erklärte der Abt, »um das große und heilige Werk zu verrichten, das diese
Mauern krönt«, und bei diesen Worten wies er durch das Fenster auf den massigen Bau des Aedificiums,
dessen Türme sogar die Abteikirche überragten, »haben gottesfürchtige Männer jahrhundertelang arbeiten
müssen, und während der ganzen Zeit haben sie eherne Regeln befolgt. Die Bibliothek ist nach einem Plan
entstanden, der allen Beteiligten dunkel geblieben ist in all den Jahrhunderten, keiner der Mönche war und
ist je befugt, ihn zu kennen. Allein der Bruder Bibliothekar weiß um das Geheimnis, er hat es von seinem
Vorgänger erfahren und gibt es vor seinem Tode weiter an seinen Adlatus, damit, falls ein plötzlicher Tod
ihn heimsucht, die Bruderschaft nicht dieses kostbaren Wissens beraubt wird. Doch beider Lippen sind
durch das Geheimnis versiegelt. Allein der Bibliothekar hat das Recht, sich im Labyrinth der Bücher zu
bewegen, er allein weiß, wo die einzelnen Bände zu finden sind und wohin sie nach Gebrauch wieder
eingestellt werden müssen, er allein ist verantwortlich für ihre sachgemäße Erhaltung. Die anderen Mönche
arbeiten im Skriptorium und haben nur Einsicht in das Verzeichnis der Bücher. Aber ein Verzeichnis besagt
oft wenig, und allein der Bibliothekar kann aus der Signatur eines Buches und aus dem Grad seiner
Unzugänglichkeit ersehen, welche Art von Geheimnis, von Wahrheit oder von Lüge es enthält. Er allein
entscheidet, zuweilen nach Rücksprache mit mir, ob, wann und wie es dem Mönche, der es bestellt hat,
auszuhändigen ist. Denn nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren bestimmt, nicht alle Lügen sind sofort als
solche erkennbar für eine fromme Seele, und schließlich sollen die Mönche im Skriptorium eine genau
definierte Arbeit tun, wozu sie bestimmte Bücher lesen müssen – die anderen gehen sie nichts an, und sie
sollen nicht jedem Anflug von Neugier nachgeben, der sie plötzlich packen mag, sei es aus Schwäche des
Geistes oder aus Hochmut oder aufgrund einer teuflischen Einflüsterung.«
»Demnach gibt es in Eurer Bibliothek auch Bücher, die Lügen enthalten . . .«
»Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen
offenbart sich die Größe des Schöpfers. So existieren, gleichfalls als Teil des göttlichen Plans, auch die Bücher
der Magier, die Kabbalen der Juden, die Fabeln der heidnischen Dichter und die Lügen der Ungläubigen.
Stets war es die feste und heilige Überzeugung der Gründer und Hüter dieser Abtei, daß auch in den
Lügenbüchern ein Abglanz der göttlichen Weisheit vor den Augen des kundigen Lesers aufscheinen kann.
Und darum enthält die Bibliothek auch diese Bücher. Doch aus dem gleichen Grunde, versteht Ihr, darf sie
nicht von jedermann betreten werden. Außerdem«, fügte der Abt hinzu, als wollte er sich für die Dürftigkeit
dieses letzten Arguments entschuldigen, »sind Bücher gebrechliche Wesen, sie leiden unter dem Zahn der
Zeit, sie fürchten die Nagetiere, die Unbilden der Witterung, die plumpen Hände ungeübter Benutzer. Hätte
in den vergangenen Jahrhunderten jedermann Zutritt zur Bibliothek gehabt und unsere Handschriften nach
Belieben berühren dürfen, so wäre der größte Teil von ihnen heute nicht mehr vorhanden. Der Bibliothekar
schützt sie also nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor der Natur, und er widmet sein ganzes Leben
diesem fortwährenden Krieg gegen die Kräfte des Vergessens, des Feindes der Wahrheit.«
»Demnach betritt also außer den beiden Personen niemand das Obergeschoß des Aedificiums?«
Der Abt lächelte fein: »Niemand darf es. Niemand kann es. Niemand hätte, selbst wenn er es wollte,
Erfolg. Die Bibliothek verteidigt sich selbst. Unergründlich wie die Wahrheit, die sie beherbergt, trügerisch
wie die Lügen, die sie hütet, ist sie ein geistiges Labyrinth und zugleich ein irdisches. Kämt Ihr hinein, Ihr
kämt nicht wieder heraus. Dies mag Euch genügen, ich muß Euch bitten, Euch an die Regeln dieser Abtei zu
halten.«
»Gleichwohl haltet Ihr es für möglich, daß Adelmus aus einem der Fenster des Obergeschosses gestürzt
sein könnte. Wie soll ich seinen Tod untersuchen, wenn ich den Ort nicht sehen darf, an dem die Geschichte
seines Todes möglicherweise begonnen hat?«
»Verehrtester Bruder William«, sagte der Abt konziliant, »einem Manne, der meinen Rappen Brunellus
beschreiben konnte, ohne ihn je gesehen zu haben, und der den Tod des Adelmus zu schildern vermochte,
obwohl er so gut wie nichts darüber wußte – einem solchen Manne wird es kaum schwerfallen, in seine
Gedanken Orte miteinzubeziehen, zu denen er keinen Zutritt hat.«
»Wie Ihr wollt«, fügte sich William mit einer leichten Verbeugung. »Ihr seid weise, auch wenn Ihr streng
seid.«
»Wenn ich je weise sein sollte«, versetzte der Abt elegant, »so wäre ich es, weil ich streng zu sein
vermag.«
»Ein letztes noch«, wollte William wissen. »Wie steht es mit Ubertin?«
»Er ist hier. Er erwartet Euch. Ihr findet ihn in der Kirche.«
Der Name der Rose – Erster Tag
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»Wann?«
»Jederzeit«, lächelte der Abt. »Ihr müßt wissen, er ist, obgleich sehr gelehrt, kein Mann, der sich gern in
Bibliotheken aufhält. Eine säkulare Verlockung hält ihn davon ab . . . Er verbringt seine Tage zumeist in der
Kirche mit Meditation und Gebet.«
»Ist er alt geworden?« fragte William zögernd.
»Seit wann habt Ihr ihn nicht gesehen?«
»Seit vielen Jahren.«
»Er ist müde geworden. Er hat sich weit von den Dingen der Welt entfernt. Achtundsechzig Jahre ist er
alt, aber ich glaube, sein Geist ist jung geblieben.«
»Ich werde ihn unverzüglich aufsuchen. Ich danke Euch.«
Der Abt lud ihn ein, mit den Mönchen das Mittagsmahl einzunehmen, aber William sagte, er habe erst
vor kurzem gegessen, und zwar sehr gut, und er wolle lieber gleich Ubertin aufsuchen. So erhob sich der Abt
und wandte sich mit einem Gruß zur Tür.
Als er die Zelle gerade verlassen wollte, erhob sich im Hof ein markerschütternder Schrei wie von einem
tödlich getroffenen Menschen, gefolgt von weiteren, ebenso gräßlichen Lauten. »Was ist das?« fragte
William erschrocken. »Nichts«, erwiderte lächelnd der Abt. »In dieser Jahreszeit werden die Schweine
geschlachtet. Die Metzger tun ihre Arbeit. Nicht dies ist das Blut, mit dem Ihr Euch zu beschäftigen braucht.«
Sprach's und verließ uns – und schädigte mit diesen Worten seinen Ruf als Mann von kluger Voraussicht.
Denn am nächsten Morgen . . . Aber zügele deine Ungeduld, meine geschwätzige Zunge! Denn auch an
diesem Tage, und ehe die Nacht hereinbrach, sollte so mancherlei noch geschehen, wovon zu berichten ist.
Der Name der Rose – Erster Tag
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ERSTER TAG
SEXTA
Worin Adson das Kirchenportal bewundert und
William seinem alten Freund Ubertin von Casale wiederbegegnet.
Die Kirche war nicht majestätisch wie andere, die ich später in Straßburg, in Chartres, in Bamberg oder
auch in Paris sehen sollte. Sie glich eher denen, die ich bereits an verschiedenen Orten in Italien gesehen,
Kirchen von gedrungener Bauart, die nicht unbedingt hoch hinaus wollten, nicht schwindelerregend gen
Himmel stürmten, sondern fest auf der Erde standen, oft breiter als hoch; nur daß diese auf einer ersten
Höhe überragt wurde, gleich einem Felsen, von einer Reihe quadratischer Zinnen, hinter welchen sich auf
dieser ersten Höhe ein zweiter Bau erhob, weniger ein Turm als eine solide zweite Kirche, gekrönt von einem
steilen Dach und die Mauern durchbrochen von schmalen, schmucklosen Fenstern. Eine robuste
Abteikirche also, wie unsere Vorfahren sie zu bauen pflegten in der Provence und im Languedoc, fern den
Kühnheiten und übertriebenen Schnörkeln des modernen Stils, und erst in neuerer Zeit, wie mir schien,
hatte man sie über dem Chor mit einem kühn zum Himmelsgewölbe emporweisenden Dachreiter verziert.
Der Eingang, flankiert von zwei schlanken und nüchternen Säulen, erschien von weitem wie ein einziger
großer Bogen; beim Näherkommen sah ich jedoch, daß hinter den Säulen zwei mächtige Gewände
begannen, die, überwölbt von weiteren und vielfältigen Bögen, eine tiefe Vorhalle bildeten und den Blick wie
ins Innere einer Höhle zum eigentlichen Portal leiteten, das im Halbdunkel erkennbar wurde. Beherrscht
von einem mächtigen Tympanon, einem halbkreisförmigen Giebelfeld voller Figuren, das rechts und links
auf zwei Torpfosten ruhte und in der Mitte auf einem behauenen Pfeiler, der den Eingang in zwei Öffnungen
teilte, war es bewehrt mit Türflügeln aus metallbeschlagenem Eichenholz. Da die bleiche Novembersonne
zu dieser Mittagsstunde fast senkrecht über dem Dach stand, fiel das Licht schräg auf die Fassade, ohne das
Tympanon zu erhellen. So kam es, daß wir, sobald wir die Eingangssäulen hinter uns hatten, im Schatten
eines fast waldartigen Gewölbes standen, geformt aus den Arkaden, die sich auf kleinen, die Seitenwände
der Vorhalle stützenden Säulen erhoben. Und kaum daß meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten,
traf mich wie ein Schlag die stumme Rede des bebilderten Steins, die den Augen und der Phantasie eines
jeden verständlich ist (denn pictura est laicorum literatura), und stürzte mich tief in eine Vision, von der meine
Zunge noch heute nur stammelnd zu berichten vermag.
Ich sah einen Thron, der gesetzt war im Himmel, und auf dem Thron saß Einer, und Der Da Saß, war
streng und erhaben anzusehen, die weitgeöffneten Augen blickten funkelnd auf eine ans Ende ihrer
irdischen Tage gelangte Menschheit. Prächtige Locken und ein majestätischer Bart umrahmten sein Antlitz
und fielen auf seine Brust gleich den Wassern eines Stromes in lauter ebenmäßigen und symmetrischen
Wellen. Die Krone auf seinem Haupte war reich mit Gemmen und Edelsteinen geschmückt, das herrliche
Purpurgewand, durchwoben mit goldenen Litzen und Spitzen, umhüllte in weiten Falten seine Gestalt. Mit
der Linken hielt er auf dem Knie ein versiegeltes Buch, die Rechte hob er zu einer Geste, von der ich nicht
sagen kann, ob sie segnend war oder drohend. Sein Antlitz leuchtete in der blendenden Schönheit eines
kreuzförmigen und blumengeschmückten Heiligenscheins, und ein Regenbogen war um den Thron,
anzusehen gleich einem Smaragd. Und vor dem Thron, zu Füßen des, Der Da Saß, war ein gläsernes Meer
wie aus Kristall, und um den Sitzenden, um seinen Thron und darüber, sah ich vier schreckliche Tiere –
schrecklich für mich, der ich sie hingerissen betrachtete, aber lieblich und süß für den Sitzenden, dessen Lob
sie sangen ohn' Unterlaß.
Genaugenommen konnte man nicht von allen vier Tieren sagen, daß sie schrecklich anzusehen waren,
denn schön und edel erschien mir jenes in Menschengestalt, das links von mir (also zur Rechten des
Sitzenden) ein Buch in der Hand hielt. Aber erschaudern machte mich auf der anderen Seite ein Adler mit
weitaufgerissenem Schnabel und mächtigen Klauen, die borstigen Federn als Schuppenpanzer gestaltet, die
Schwingen wie zum Fluge gebreitet. Und zu Füßen des Sitzenden, unter den beiden ersten Tieren, sah ich
einen Löwen und einen Stier, beide hielten ein Buch in ihren Pranken und Hufen, beide hatten den Körper
abgewandt vom Throne, aber den Kopf zu ihm hin, als drehten sie gerade Schulter und Hals in wildem
Ungestüm, die Flanken bebend, die tierischen Glieder zuckend, die Rachen geöffnet, die Schwänze
gewunden wie Schlangen und endend in kleinen züngelnden Flammen. Beide waren geflügelt, beide
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gekrönt mit Heiligenscheinen, und waren trotz ihres furchtbaren Anblicks keine Geschöpfe der Hölle,
sondern solche des Himmels, und wenn sie mir schrecklich erschienen, so weil sie brüllten in Anbetung
dessen, der da kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.
Rings um den Thron, um die vier Tiere und zu Füßen des Sitzenden, wie durchscheinend unter dem
Wasser des gläsernen Meeres und fast den ganzen verbleibenden Raum der Vision erfüllend (angeordnet
gemäß der triangulären Struktur des Tympanons in einer unteren Reihe von zwei mal sieben, darüber zu
Seiten des Throns zwei mal drei und darüber wiederum zwei mal zwei), sah ich vierundzwanzig Greise auf
vierundzwanzig kleinen Thronen sitzen, gekleidet in weiße Gewänder, und hatten auf ihren Häuptern
goldene Kronen. In der Hand hielten sie bald ein Räuchergefäß, bald eine Laute; nur einer von ihnen spielte,
doch alle blickten verzückt empor zu dem Sitzenden und sangen unaufhörlich sein Lob, die Glieder verdreht
wie die der beiden unteren Tiere, aber nicht in tierischer Weise, sondern wie in ekstatischem Tanze – wie
David um die Lade getanzt haben muß –, dergestalt daß, wo immer sie sich befinden mochten, ihre Blicke
entgegen dem Gesetz, das die Haltung ihrer Körper beherrschte, in ein und demselben strahlenden Punkte
zusammentrafen. Oh, welche Harmonie von Hingabe und Entrückung, von unnatürlichen und doch
anmutigen Haltungen, in dieser mystischen Sprache der wie durch ein Wunder vom Gewicht ihrer
Körperlichkeit befreiten Glieder, gestaltete Vielfalt, übergössen mit neuer Wesensform, als würde die heilige
Heerschar getrieben von einem stürmischen Wind, von einem lebenspendenden Odem, rasende Freude,
hallelujatischer Jubel, durch ein Wunder aus Klang zu Bild geworden!
Körper und Glieder beseelt vom Geist, erleuchtet von der Offenbarung, Gesichter verzückt vor Staunen,
Blicke verdreht vor Begeisterung, Wangen gerötet von Liebe, Pupillen geweitet von Glück, der eine getroffen
von freudiger Überraschung, der andere von überraschender Freude, der eine entrückt in Bewunderung, der
andere verjüngt durch die Lust – so sah ich die Greise singen, singen ein neues Lied, mit dem Ausdruck ihrer
Gesichter, mit dem Faltenwurf ihrer Mäntel, mit der Beugung und Anspannung ihrer Glieder, die Lippen
halboffen in einem Lächeln ewigen Lobens. Und zu Füßen der Greise und gewölbt über ihnen und über dem
Sitzenden und den vier Tieren, angeordnet in symmetrischen Reihen und Bändern, kaum
auseinanderzuhalten, so fein hatte die Weisheit der Kunst sie verflochten, gleichförmig in der Vielfalt und
vielförmig in der Gleichheit, einig in der Verschiedenheit und verschieden in der Einigkeit, herrlich
übereinstimmend in ihren Teilen, wunderbar abgestimmt in ihren Farben, Wunder der Harmonie und des
Einklangs unterschiedlicher Stimmen, Eintracht nach Art von Harfensaiten, einstimmende und fortwährend
aufs neue sich verbündende Vermählung und Verschwägerung kraft einer tiefen und inneren Fähigkeit,
einhellig zusammenzuwirken im Wechselspiel auch und gerade der Zweideutigkeiten, Zierde und
Sammlung bald irreduzibler, bald reduzierter Formen, Werk einer liebevollen Zusammenfügung, getragen
von einer himmlischen wie zugleich irdischen Regel (Band und fester Verbund von Frieden, Liebe, Tugend,
Herrschaft, Macht, Ordnung, Ursprung, Werden, Leben, Licht, Glanz, Gattung und Gestalt), mannigfaltige
Gleichheit, widerscheinend im Aufschein der Formen über den wohlproportionierten Teilen der Materie –
so sah ich einander sich verflechten die Blumen und Blätter und Ranken und Dolden sämtlicher Pflanzen,
mit denen die Gärten der Erde und des Himmels sich schmücken, Veilchen, Ginster, Lilien, Liguster,
Kolokasien, Narzissen, Thymian, Akanthus, Myrrhen und Balsam.
Doch während meine Seele, ergriffen von diesem Konzert aus irdischen Schönheiten und majestätischübernatürlichen
Zeichen, gerade in einen Jubelgesang ausbrechen wollte, fiel mein Blick, dem regelmäßigen
Rhythmus der Blumenrosetten zu Füßen der Greise folgend, auf die verschlungenen Figuren am
Mittelpfeiler des Portals. Was sah ich da, welche symbolische Botschaft überbrachten mir jene drei
kreuzförmig mit- und übereinander verschränkten Löwenpaare, aufsteigend in Bögen, die Hinterbeine einer
jeden Bestie auf den Boden gestemmt und die Vorderpranken auf den Rücken der nächsten, die Mähnen
gesträubt zu schlangenartigen Zotteln, die Zähne gebleckt zu drohendem Fauchen, die Körper mit dem
Pfeiler verbunden durch ein Gewirr und Geflecht von Ranken? Zur Beruhigung meiner Seele, wie um mir
kundzutun, daß diese Löwen hier angebracht waren, um ihre diabolische Kraft zu meistern und
umzuwandeln in symbolische Anspielung auf die höheren Dinge, zeigten sich rechts und links an den Seiten
des Pfeilers je eine menschliche Gestalt, widernatürlich langgezogen fast über die ganze Höhe der Säule,
und gegenüber, auf dem gemeißelten Torpfosten, wo die Türen aus Eichenholz verankert waren, in genauer
Entsprechung zwei andere Gestalten. Vier also, vier Figuren von alten Männern, an deren Paraphernalien
ich bei genauerem Hinsehen Petrus und Paulus, Jeremias und Jesajas erkannte, gewunden auch sie wie im
Tanzschritt, die langen knochigen Hände mit ausgestreckten Fingern erhoben gleich Flügeln, und Flügeln
gleich wehten die Barte und Haare in einem prophetischen Wind, und die Falten der langen Gewänder
wölbten sich über zuckenden und extrem in die Länge gezogenen Beinen – vier hohe und hehre Gestalten,
den verschränkten Löwen entgegengesetzt, doch von gleichem Material wie sie. Und während ich, fasziniert
und gebannt von dieser rätselhaften Polyphonie aus heiligen Gliedern und höllischen Muskeln, den Blick
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weitergleiten ließ, sah ich neben dem Portal und unter den tiefen Arkaden des Vorbaus, in Stein gemeißelt
zwischen den schlanken Säulen, überwölbt von der reichen Vegetation ihrer Kapitelle und von dort sich
weiter verzweigend zum waldartigen Gewölbe der vielfachen Bögen, andere Visionen, die mich erschauern
ließen und die wohl an diesem Ort nur gerechtfertigt waren durch die moralische Lehre, die sie dem
frommen Betrachter erteilten: Ich sah eine Lüsterne, nackt und entfleischt, rot von ekligen Schwären,
Schlangen fraßen an ihrem Leib, daneben ein trommelbäuchiger Satyr mit pelzigen Greifenklauen und einer
obszönen Fratze, die ihre eigene Verdammnis hinausschrie; und ich sah einen Habsüchtigen, starr in der
Starre des Todes auf seinem prunkvollen Lotterbett, nun feige Beute einer Schar von Dämonen, deren einer
ihm aus dem röchelnden Munde die Seele zog, sie hatte die Form eines kleinen Kindes (Wehe, nie wird es
für ihn eine Auferstehung zum ewigen Leben geben!); und ich sah einen Hoffärtigen, dem ein Alp auf der
Schulter hockte und mit spitzigen Krallen die Augen auskratzte, und ich sah noch mehr Dämonen,
ziegenköpfige, löwenmähnige, panthermäulige, gefangen in einem Flammenwald, dessen Brandgeruch ich
fast zu riechen meinte. Und um sie herum, mit ihnen vermischt, zu ihren Köpfen und zu ihren Füßen, sah
ich noch andere Fratzen und Glieder, einen Mann und eine Frau, die sich an den Haaren zerrten, zwei
Vipern, die eines Verdammten Augen schlürften, einen irre Lachenden, der mit Krallenhänden den Rachen
einer Hydra aufriß, und sämtliche Tiere aus Satans Bestiarium waren versammelt zum Konsistorium und
postiert als Wache und Garde des Sitzenden auf dem Thron, seinen Ruhm zu singen durch ihre
Unterwerfung: Faune, Hermaphroditen, Bestien mit sechsfingrigen Händen, Sirenen, Zentauren,
Gorgonen, Medusen, Harpyien, Erinnyen, Dracontopoden, Lindwürmer, Luchse, Parder, Chimären,
Leguane, sechsbeinige Agipiden, die Feuer aus ihren Nüstern sprühten, vielschwänzige Echsen, behaarte
Schlangen und Salamander, Vipern, Nattern, Ratten, Raben, Greife, Geier, Eulen, Käuzchen, Wiedehopfe,
Wiesel, Warane, Krokodile, Krebse mit Sägehörnern, Leukrokuten mit Löwenkopf und Hyänenleib,
Mantikoren mit drei Zahnreihen im Maul, Hydren mit Zahnreihen auf dem Rücken, Drachen, Saurier, Wale,
Seeschlangen, Affen mit Hundeköpfen, Makaken, Marder, Ottern, Igel, Basilisken, Chamäleons, Geckos,
Skorpione, Sandvipern, Schleichen, Frösche, Polypen, Kraken, Muränen, Molche und Lurche. Die ganze
Schauergesellschaft der niederen Kreaturen schien sich ein Stelldichein gegeben zu haben, um der
Erscheinung des Sitzenden auf dem Throne als Vorhof zu dienen, als Unterbau und Kellergewölbe, als
unterirdisches Land der Verstoßenen, sie, die Besiegten von Armageddon, im Angesicht des, der da
kommen wird, endgültig zu trennen zwischen den Lebenden und den Toten. Starr vor Entsetzen stand ich
da, wie betäubt von dieser Vision und nicht mehr ganz sicher, ob ich an einem freundlichen Ort mich befand
oder im Tal des Jüngsten Gerichts, und nur mit Mühe vermochte ich meine Tränen zurückzuhalten, und
mich dünkte zu hören (oder hörte ich wirklich?) all jene Stimmen, und mich dünkte zu sehen all jene
Gesichte, die meine Kindheit begleitet hatten, meine erste Lektüre der heiligen Bücher und meine Nächte
der Meditation als Novize im Chor von Melk. Und in der Ohnmacht meiner geschwächten Sinne vernahm
ich eine mächtige Stimme wie eine Posaune, und die sprach: »Was du siehest, das schreibe in ein Buch!«
(und eben dies tue ich nun). Und ich sah sieben goldene Leuchter und mitten unter den sieben Leuchtern
Einen, der war eines Menschen Sohne gleich, der war angetan mit einem langen Gewand und begürtet um
die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der
Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße gleich Messing, das im Ofen glüht, und
seine Stimme war wie ein großes Wasserrauschen, und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und
aus seinem Munde ging ein scharfes zweischneidiges Schwert. Und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel,
und Der Da Saß war anzusehen wie der Stein Jaspis und Sarder, und ein Regenbogen war um den Thron,
anzusehen wie ein Smaragd, und von dem Thron gingen Blitze und Donner aus, und Der Da Saß hatte in
seiner Hand eine scharfe Sichel und rief mit gewaltiger Stimme: »Schlag an mit deiner Sichel und ernte, denn
die Zeit zu ernten ist gekommen, reif ist die Ernte der Erde!« Und Der Da Saß schlug an mit seiner Sichel,
und die Erde ward geerntet.
In diesem Augenblick wußte ich, daß meine Vision von nichts anderem sprach als von dem schlimmen
Geschehen in dieser Abtei, wie wir es erfahren hatten von den zögernden Lippen des Abtes. Und noch oft
in den nächsten Tagen sollte ich hierher zurückkehren, das Portal zu bewundern, im sicheren Gefühl, genau
die Geschichte selbst zu erleben, die seine Bilder erzählten. Und ich begriff, daß wir an diesen Ort
gekommen waren, um Zeugen zu werden eines großen himmlischen Dreinschlagens.
Mich schauderte, meine Glieder zitterten wie durchtränkt vom eisigen Winterregen. Und ich vernahm
eine weitere Stimme, aber diesmal kam sie von hinten und war eine andere, eine irdische Stimme von dieser
Welt und nicht eine himmlische aus dem leuchtenden Zentrum meiner Vision. Und sie beendete meine
Vision, denn auch William (dessen Anwesenheit ich erst jetzt bemerkte, auch er war bis zu diesem Moment
in Kontemplation versunken gewesen) drehte sich zu ihr um.
Der Name der Rose – Erster Tag
34
Das Wesen in unserem Rücken schien ein Mönch zu sein, obwohl seine schmutzige und zerlumpte Kutte
eher an einen Vagabunden denken ließ, und sein Gesicht war nicht unähnlich dem der Monster, die ich
soeben an den Kapitellen gesehen. Nie im Leben ist es mir widerfahren (anders als vielen meiner Mitbrüder),
vorn Teufel besucht worden zu sein, doch ich glaube, wenn er mir eines Tages erscheinen sollte, so hätte er
– unfähig, wie er kraft göttlichen Ratschlusses ist, seine wahre Natur vollkommen zu verbergen, so
menschenähnlich er sich auch zu machen versucht – gewiß kaum andere Züge als jene, die wir in diesem
Augenblick an unserem Gegenüber erblickten. Der Schädel kahlgeschoren, aber nicht aus Bußfertigkeit,
sondern infolge der Tätigkeit eines grindigen Ausschlags, die Stirn so niedrig, daß, hätte er Haare auf dem
Kopf gehabt, sie zweifellos mit den dichten und struppigen Brauen zusammengewachsen wären, die Augen
rund mit kleinen und flinken Pupillen, der Ausdruck schwankend zwischen Unschuld und Verschlagenheit,
wahrscheinlich beides abwechselnd, je nachdem. Die Nase konnte man eigentlich kaum als solche
bezeichnen, bestand sie doch nur aus einem Knochen, der zwischen den Augen vorsprang, um sich jedoch
schleunigst wieder zurückzuziehen, so daß nur zwei dunkle Höhlen blieben, weiträumige Nasenlöcher
voller schwärzlicher Haare. Der Mund, mit den Nasenlöchern durch eine Narbe verbunden, war breit und
schief, rechts breiter als links, und zwischen der Oberlippe, die nicht existierte, und der dicken, wulstigen
Unterlippe bleckten in unregelmäßigen Abständen schwärzliche Zähne, spitz wie die eines Hundes.
Der Mensch lächelte (beziehungsweise zog eine Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte), hob einen
Finger, wie um uns zu warnen, und sprach:
»Penitenziagite! Siehe, draco venturus est am Fressen anima tua! La mortz est super nos! Prego, daß
Vater unser komm, a liberar nos vom Übel de todas le peccata. Ah, ah, hihihi, Euch gfallt wohl ista
negromanzia de Domini Nostri Jesu Christi! Et anco jois m'es dols e plazer m'es dolors . . . Cave el diabolo!
Semper m'aguaita, immer piekster und stichter, el diabolo, per adentarme le carcagna. Aber Salvatore non
est insipiens, no no, Salvatore weiß Bescheid. Et aqui bonum monasterium, hier lebstu gut, se tu priega
dominum nostrum. Et el resto valet un figo secco. Amen. Oder?«
Ich werde im Fortgang der Handlung noch mehrfach von diesem Salvatore zu berichten haben und seine
seltsamen Reden wiedergeben. Ich gestehe allerdings, daß ich damit gewisse Schwierigkeiten habe, denn
noch heute wüßte ich nicht zu sagen, in was für einem Idiom er sich auszudrücken beliebte. Es war nicht
jenes Latein, in welchem sich die gebildeten Mönche in der Abtei verständigten, es war aber auch nicht die
Volkssprache jener Gegend noch sonst eine, die mir je zu Ohren gekommen wäre. Ich hoffe, dem Leser eine
ungefähre Vorstellung von Salvatores Redeweise gegeben zu haben mit obiger Wiedergabe (so getreu die
Erinnerung sie mir erlaubt) der ersten Worte, die ich von ihm vernahm. Später, als ich von seinem
abenteuerlichen Leben erfuhr und von den vielen Orten und Ländern, in denen er geweilt, ohne jemals
irgendwo Wurzeln zu schlagen, begriff ich, daß er sozusagen alle Sprachen und keine sprach.
Beziehungsweise daß er sich eine eigene Sprache erfunden hatte, die aus Fragmenten und Fetzen der vielen
Sprachen bestand, mit denen er in Berührung gekommen war. Einmal ist mir sogar der Gedanke
gekommen, daß seine Sprache womöglich vielleicht . . . wie soll ich sagen . . . nicht etwa die adamitische war,
welche die glückliche Menschheit zu Anfang der Schöpfung gesprochen, bis sie den unglückseligen
Turmbau zu Babel begann, und ebensowenig eine der vielen Sprachen, die nach der verhängnisvollen
Verwirrung entstanden, sondern vielmehr genau die Sprache Babels am ersten Tag nach der göttlichen
Züchtigung, also die Sprache der primären Konfusion. Andererseits war Salvatores Idiom nicht eigentlich
Sprache zu nennen, denn in jeder menschlichen Sprache gibt es bestimmte Regeln, jede Wortform und
Endung bedeutet, ad placitum, irgend etwas mehr oder minder Präzises kraft eines unwandelbaren und
unverzichtbaren Gesetzes. Der Mensch kann den Hund nicht nach Belieben einmal Hund und einmal Katze
nennen, auch kann er nicht einfach irgendwelche Laute ausstoßen, denen im Konsens der Anwesenden kein
präziser Sinn zukommt, er kann zum Beispiel nicht einfach »blitiri« sagen. Dennoch bekam ich ungefähr mit,
was Salvatore uns sagen wollte, und auch die anderen in der Abtei verstanden ihn recht und schlecht – was
zeigte, daß er eben nicht eine bestimmte, sondern alle Sprachen sprach, aber keine richtig, vielmehr die
Worte bald aus der einen und bald aus der anderen nehmend. Später bemerkte ich in der Tat, daß er eine
Sache nach Belieben auf provencalisch oder katalanisch oder lateinisch benennen konnte, und ich begriff
auch, daß er weniger eigene Sätze bildete, als daß er verstreute Bruchstücke anderer Sätze, die er irgendwo
aufgeschnappt hatte, je nach der Situation und nach dem, was er sagen wollte, benutzte und irgendwie
zusammenfügte, gleichsam als könnte er beispielsweise von einer Speise nur mit den Worten derer reden,
bei denen er sie zuerst gekostet, oder als könnte er seine Freude nur mit Sätzen ausdrücken, die er aus dem
Munde von freudigen Menschen vernommen, während er selbst eine ähnliche Freude empfand. Es war, wie
wenn seine Zunge gleich seinen Zügen zusammengeflickt worden wäre aus Teilen und Stücken anderer
Zungen, oder auch (si licet magnis componere parva, oder wenn es erlaubt ist, göttliche Dinge mit denen des
Teufels zu vergleichen) wie wenn kostbare Reliquien hervorgehen aus den Resten anderer heiliger
Der Name der Rose – Erster Tag
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Gegenstände . . .
Doch in jenem Augenblick, als ich Salvatore zum ersten Mal sah und hörte, schien er mir nicht unähnlich
jenen wüsten Bastarden, die ich gerade am Kirchenportal gesehen hatte. Später bemerkte ich, daß er
offenbar ein gutes Herz besaß und einen skurrilen Humor. Und noch später . . . Aber bleiben wir bei der
Reihenfolge. Auch weil, kaum daß Salvatore geendet hatte, mein Meister ihn scharf ins Auge faßte und
fragte:
»Warum hast du penitenziagite gesagt?«
»Domine frate magnificentissimo«, antwortete Salvatore mit einer kleinen Verbeugung, »Jesus venturus
est, und die Menschen müssen doch facere penitentia. Oder?«
William sah ihm fest in die Augen: »Kommst du aus einem Minoritenkloster?«
»No capito.«
»Ich frage dich, ob du unter den Mönchen des heiligen Franziskus gelebt hast. Ich frage dich, ob du
Bekanntschaft gemacht hast mit den sogenannten Apostlern . . .«
Salvatore erbleichte, beziehungsweise sein braungebranntes Fratzengesicht wurde grau. Er machte eine
tiefe Verbeugung, bekreuzigte sich devot, murmelte etwas von »vade retro« und rannte davon, nicht ohne
sich mehrfach umzublicken.
»Was habt Ihr ihn gefragt?« wollte ich wissen.
William verharrte einen Augenblick in Gedanken, strich sich dann mit der Hand über die Schläfe und
sagte: »Nichts. Ich sag's dir später. Laß uns nun in die Kirche gehen. Ich möchte Ubertin sehen.«
Es war kurz nach der sechsten Stunde. Die Sonne stand bleich im Westen und erhellte das Kircheninnere
nur durch ein paar schmale Fenster. Ein dünner Strahl traf gerade noch den Hochaltar und ließ den
Baldachin in einem goldenen Schimmer erglänzen. Die Seitenschiffe lagen in tiefem Schatten.
Im linken Seitenschiff, nahe der letzten Kapelle vor dem Altar, stand eine zierliche Säule, darauf eine
steinerne Muttergottes, geformt im modernen Stil, die Lippen umspielt von einem unbeschreiblichen
Lächeln, der Leib vortretend, das Kind im Arm, gekleidet in ein anmutiges Gewand mit feinem Korsett. Zu
Füßen der Säule lag, im Gebet versunken und fast prosterniert, ein Mann in der Tracht des
Cluniazenserordens.
Wir traten näher. Der Mann, aufgeschreckt durch das Geräusch unserer Schritte, hob den Kopf. Es war
der Kopf eines Greises, bartlos und kahl, die Augen groß und hellblau, die Lippen dünn und rot, die Haut
schneeweiß und faltig um einen knochigen Schädel hängend als handle es sich um eine in Milch
konservierte Mumie. Die weißen Hände mit ihren langen und schmalen Fingern vervollständigten den
Eindruck eines welken, im zarten Alter dahingerafften Mädchens. Sein Blick schien zunächst verwirrt, als
hätten wir ihn in einer ekstatischen Vision gestört, doch plötzlich erhellten sich seine Züge in freudiger
Überraschung.
»William!« rief er aus. »Mein liebster Bruder William!« Der Greis erhob sich mit Mühe, trat meinem
Herrn entgegen, umarmte ihn und küßte ihn auf den Mund. »William!« rief er noch einmal, und seine Augen
füllten sich mit Tränen. »Wie lange hab' ich dich nicht gesehen! Aber ich erkenne dich wieder! Wie viele
Jahre, wie viele Begebenheiten! Wie viele Prüfungen hat uns der Herr auferlegt!« Er weinte. William
erwiderte die Umarmung, sichtlich bewegt. Wir standen vor Ubertin, dem großen Ubertin von Casale.
Ich hatte schon viel von ihm gehört, bereits vor meiner Ankunft in Italien und dann noch mehr bei den
Franziskanern am Hofe des Kaisers. Einmal hatte mir sogar jemand gesagt, daß der größte Dichter unserer
Epoche, der Florentiner Dante Alighieri, der wenige Jahre zuvor gestorben war, ein großes Gedicht
geschrieben habe, ein gewaltiges Epos von Hölle und Paradies, an welchem Himmel und Erde mitgewirkt
hätten und dessen Verse (ich konnte sie leider nicht lesen, da sie in der toskanischen Volkssprache abgefaßt
waren) auf weite Strecken nichts anderes seien als eine Paraphrase von Abschnitten aus Ubertins Buch Arbor
vitae crucifixae. Und das war nicht der einzige Titel dieses bedeutenden Mannes. Doch um dem Leser
verständlich zu machen, wie bedeutend er war, muß ich hier etwas weiter ausholen und versuchen, die
Ereignisse jener Jahre zu schildern, so gut ich es kann – das heißt, soweit sie mir damals während meines
kurzen Aufenthalts in Italien klar wurden aus den verstreuten Bemerkungen meines Lehrers sowie aus den
vielen Gesprächen, die er im Verlauf unserer Reise mit Äbten und Mönchen geführt hatte.
Ich will mich bemühen, alles so zu berichten, wie ich es verstanden habe, auch wenn ich nicht sicher bin,
ob ich diese Dinge immer richtig darzustellen vermag. Meine Lehrer in Melk pflegten gern zu sagen, es sei
Der Name der Rose – Erster Tag
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für uns Leute aus dem Norden sehr schwer, sich ein klares Bild von den mannigfaltigen religiösen und
politischen Wechselfällen in Italien zu machen.
Auf jener Halbinsel, wo die Macht des Klerus offenkundiger war als in jedem anderen Land und wo der
Klerus auch offener als in jedem anderen Land seine Macht und seinen Reichtum zeigte, waren seit
mindestens zwei Jahrhunderten immer wieder Bewegungen von Männern und Frauen entstanden, die ein
Leben in größerer Armut fuhren wollten, in Polemik und aus Protest gegen die korrupten Prälaten, von
denen sie manchmal sogar die Sakramente ablehnten, indem sie sich zu autonomen Gemeinden
zusammenschlössen, womit sie den Neid und Haß nicht nur der Kirchenoberen, sondern auch des Kaisers,
des Adels und der Stadtbürger auf sich zogen.
Dann war der heilige Franz von Assisi gekommen und hatte eine Liebe zur Armut gepredigt, die den
Vorschriften der Kirche nicht widersprach, und dank seines Wirkens hatte die Kirche den Aufruf zur
Sittenstrenge jener alten Bewegungen schließlich gutgeheißen und sie bereinigt von den Elementen der
Unordnung, die sich in ihnen festgesetzt hatten. So hätte nun eine Zeit des Friedens und der Heiligkeit
anbrechen können, doch im gleichen Maße, wie der franziskanische Orden wuchs und die besten Männer
in seinen Bannkreis zog, wuchs auch seine Macht und sein Hang zu den irdischen Dingen, weshalb immer
mehr Franziskaner aufbegehrten und die Brüder zurückführen wollten zur ursprünglichen Reinheit. Was
freilich eine recht schwierige Sache war, hatte der Orden doch zur Zeit meines Besuchs in der Abtei schon
mehr als dreißigtausend Mitglieder in aller Welt. Aber so war es eben, und viele von diesen Brüdern des
heiligen Franz widersetzten sich der Regel, die sich der Orden gegeben hatte, denn, so sagten sie, er habe
längst die Formen jener kirchlichen Institutionen angenommen, gegen die er einst angetreten war. Jawohl,
und das sei bereits zu Lebzeiten des heiligen Franz geschehen, und seine Worte und Intentionen seien
verraten worden! Viele von denen, die so sprachen, entdeckten damals die Schriften eines
Zisterziensermönches namens Joachim von Fiore, der zu Anfang des 12. Jahrhunderts in Kalabrien gelehrt
hatte und dem ein prophetischer Geist zugeschrieben wurde. In der Tat hatte er die baldige Heraufkunft
einer neuen Zeit verkündet, in welcher sich der Geist Christi, der seit langem entartet sei durch das Treiben
seiner falschen Apostel, von neuem verkörpern werde auf Erden. Und angesichts der Termine, die Joachim
dafür genannt hatte, schien es allen ganz klar, daß er unbewußt vom Orden der Franziskaner gesprochen
hatte. Und darüber hatten sich viele Franziskaner sehr gefreut, vielleicht ein wenig zu sehr, jedenfalls kam
es dann um die Mitte des letzten Jahrhunderts dazu, daß die gelehrten Doctores der Sorbonne zu Paris die
Lehren des Abtes Joachim als Häresie verurteilten. Freilich schien es, daß sie dies hauptsächlich deswegen
taten, weil die Franziskaner (und die Dominikaner) zu mächtig zu werden begannen und zu einflußreich in
der französischen Universität, weshalb sie als Ketzer beseitigt werden sollten. Was dann allerdings nicht
geschah, und das war ein Segen für die Kirche, denn es erlaubte die Verbreitung der Schriften des Thomas
von Aquin und des Bonaventura von Bagnoregio, die nun gewiß keine Ketzer waren. Woran man sieht, daß
auch in Paris die Ideen verwirrt waren, beziehungsweise daß jemand sie um eigener Ziele willen zu
verwirren trachtete. Dies eben ist das Übel, das die Ketzerei dem Volke Christi antut: daß sie die Geister
verdunkelt und alle dazu verführt, sich zu Inquisitoren aus Eigennutz zu machen. Und was ich in jenen
Tagen in der Abtei miterleben sollte (wovon ich in diesem Buch berichten will), brachte mich zu der
Überzeugung, daß es häufig die Inquisitoren sind, die das Übel der Ketzerei erzeugen. Nicht nur in dem
Sinne, daß sie Ketzer zu sehen meinen, wo gar keine Ketzer sind, sondern daß sie den verderblichen Keim
der Häresie mit so großer Vehemenz unterdrücken, daß viele sich dazu getrieben sehen, an ihr teilzuhaben
aus Haß gegen die Unterdrücker. Wahrlich, ein circulus vitiosus, den der Teufel ersonnen hat, Gott schütze
uns davor!
Doch zurück zur joachimitischen Ketzerei (wenn es denn eine war). Damals predigte in der Toskana ein
Franziskaner, Fra Gerhardino von Borgo San Donnino, der sich zum Sprachrohr der Prophezeiungen des
Joachim machte und damit die Minderen Brüder sehr beeindruckte. So bildete sich unter ihnen eine Gruppe,
die starr an der alten Regel festhielt, als der große Bonaventura, der inzwischen ihr Ordensgeneral geworden
war, den Orden zu reorganisieren versuchte. Und als dann im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts
das Konzil zu Lyon dem Orden der Franziskaner, um ihn vor denen zu retten, die ihn abschaffen wollten,
das Eigentum an allen Gütern zugestand, die er im Gebrauch hatte, kam es in den italienischen Marken zu
einem Aufstand von Brüdern, die meinten, nun sei der Geist der franziskanischen Regel endgültig verraten
worden, denn Franziskaner dürften niemals etwas besitzen, weder als einzelne noch als Konvent noch als
Orden. Sie wurden zur Strafe für ihren Aufstand lebenslänglich eingekerkert. Ich glaube nicht, daß sie etwas
gepredigt hatten, was im Widerspruch zum Evangelium stand, aber wenn das Eigentum und der Besitz an
irdischen Dingen ins Spiel kommt, wird es für die Menschen schwierig, gerecht zu argumentieren. Jahre
später, so ist mir erzählt worden, fand dann der neue Ordensgeneral Raimund Gaufredi die Eingekerkerten
in Ancona und befreite sie mit den Worten: »Wollte Gott, daß wir alle und der ganze Orden uns befleckt
Der Name der Rose – Erster Tag
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hätten mit dieser Schuld!« Woran man sieht, daß es nicht wahr ist, was die Häretiker sagen, sondern daß es
in der Kirche immer noch Männer von großer Tugend gibt.
Einer der Eingekerkerten von Ancona, ein italienischer Bruder namens Angelo Clareno, tat sich alsdann
nach seiner Befreiung mit einem provencalischen Franziskaner namens Petrus Johannis Olivi zusammen,
der die Prophezeiungen des Joachim in Südfrankreich predigte, und danach mit Ubertin von Casale, und aus
dieser Verbindung entstand die Bewegung der Spiritualen. In jenen Jahren kam es dazu, daß ein überaus
heiliger Eremit namens Petrus von Murrone den Heiligen Stuhl bestieg, um als Papst Coelestin V. zu
regieren, und dieser Papst wurde von den Spiritualen mit großer Freude begrüßt. »Ein Heiliger wird
kommen«, war geweissagt worden, »und er wird die Lehren Christi befolgen und wird leben wie ein Engel.
Erzittert, verderbte Prälaten!« Aber vielleicht lebte Coelestin allzusehr wie ein Engel, vielleicht waren die
Prälaten in seiner Umgebung allzu verderbt, vielleicht ertrug er ganz einfach nicht mehr die Spannungen
eines Krieges, der nun schon allzulange zwischen der Kurie und dem Kaiser sowie den anderen weltlichen
Herrschern Europas geführt wurde – Tatsache ist jedenfalls, daß Coelestin auf sein hohes Amt bald wieder
verzichtete, um sich in die Einsamkeit der Abruzzen zurückzuziehen. Doch in seiner kurzen Regierungszeit,
die weniger als ein Jahr gedauert hatte, waren die kühnsten Hoffnungen der Spiritualen erfüllt worden.
Einerseits hatte Coelestin mit ihnen die Gemeinschaft der fratres et pauperes heremitae domini Coelestini,
den sogenannten Coelestinerorden gegründet. Andererseits gab es, während der Papst immerfort zwischen
den mächtigen römischen Kardinälen vermitteln mußte, unter diesen einige, zum Beispiel einen Colonna
und einen Orsini, die insgeheim das neue Verlangen nach Armut unterstützten. Wahrlich eine seltsame
Haltung für so mächtige Potentaten, die selber in Wohlstand und maßlosem Reichtum lebten, und ich habe
nie recht verstanden, ob sie die Spiritualen einfach für ihre eigenen Machtinteressen benutzten, oder ob sie
meinten, sie könnten durch ihre Unterstützung der Spiritualen ihr eigenes Leben in Pracht und Luxus
irgendwie rechtfertigen; mag sein, daß beides zugleich der Fall war, ich verstehe wenig von diesen
italienischen Dingen. Doch um ein konkretes Beispiel zu geben: Ubertin fand Unterschlupf als Kaplan bei
Kardinal Orsini, als ihm, nachdem er zum geistigen Führer der Spiritualen geworden war, eine Anklage
wegen Ketzerei drohte, und derselbe Kardinal hielt auch später in Avignon seine schützende Hand über ihn.
Indessen kam es, wie es in solchen Fällen kommt: Einerseits predigten hochgebildete Franziskaner wie
Angelo und Ubertin gemäß der Heiligen Schrift, andererseits griffen zahlreiche Laien ihre Predigt auf und
verbreiteten sie ohne jede Kontrolle im Lande. So wurde Italien regelrecht überschwemmt von jenen
Fraticelli oder kleinen Brüdern des armen Lebens, die vielen gefährlich erschienen. Längst war es schwierig
geworden, klar zu trennen und zu unterscheiden zwischen den Lehrmeistern der Spiritualen, die mit den
Kirchenbehörden Kontakt hielten, und ihren einfachen Anhängern, schlichten Laienbrüdern, die außerhalb
des Ordens lebten, von erbettelten Almosen und von der täglichen Arbeit ihrer Hände, ohne das geringste
Eigentum zu besitzen. Letztere waren es, die man im Volksmund Fratizellen nannte, nicht unähnlich jenen
französischen Beginen, die sich an der Lehre des schon genannten Petrus Johannis Olivi orientierten.
Nach Coelestin V. kam Bonifaz VIII. auf den Heiligen Stuhl, und dieser Papst beeilte sich nun, so
unnachsichtig wie möglich gegen die Spiritualen und die Fratizellen vorzugehen. Noch in den letzten Jahren
des Jahrhunderts erließ er eine Bannbulle, Firma cautela, mit welcher er in einem einzigen Aufwasch Terziare,
umherschweifende Bettelmönche an den äußeren Rändern des Franziskanerordens und die eigentlichen
Spiritualen verdammte, das heißt jene Brüder, die sich dem Leben des Ordens entzogen, um ein Dasein als
Eremiten zu fuhren.
Später bemühten sich die Spiritualen, das Einverständnis anderer Päpste zu gewinnen, etwa
Clemens' V., um sich gewaltlos und friedlich vom Orden absetzen zu können, und ich glaube, sie hatten
auch zuweilen Erfolg. Doch als dann schließlich Johannes XXII. sein Pontifikat antrat, verloren sie alle
Hoffnung. Gleich nach seiner Wahl im Jahre 1316 schrieb der neue Papst einen Brief an den König von
Sizilien, wohin sich viele italienische Spiritualen geflüchtet hatten, und forderte ihn auf, diese Brüder von
seinem Land zu vertreiben. Zugleich ließ er Angelo Clareno und die provencalischen Spiritualen in Ketten
legen.
Das kann jedoch kein leichtes Unternehmen gewesen sein, und auch in der Kurie waren viele dagegen.
Tatsache ist jedenfalls, daß es Ubertin und Clareno schließlich freigestellt wurde, den Orden der
Franziskaner zu verlassen, was sie dann auch taten; der eine fand Unterschlupf bei den Benediktinern, der
andere bei den Coelestinern. Doch gnadenlos ging Johannes gegen diejenigen vor, die ihr freies Leben
fortsetzen wollten: Er ließ sie von der Inquisition verfolgen, und viele von ihnen wurden als Ketzer verbrannt.
Indessen hatte er sehr wohl begriffen, daß er, um das Unkraut der Fratizellen auszurotten, das die
Autorität der Kirche zu untergraben drohte, auch die Lehren verurteilen mußte, auf denen sie ihren Glauben
begründeten. Sie behaupteten aber, daß Christus und seine Jünger keinerlei Eigentum besessen hätten,
Der Name der Rose – Erster Tag
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weder persönliches noch gemeinschaftliches, und so verurteilte nun der Papst eben diese Behauptung als
ketzerisch. Ein erstaunliches Urteil an und für sich, ist es doch nicht ersichtlich, warum ein Papst die Ansicht
für verkehrt halten sollte, daß Christus arm gewesen sei. Doch genau ein Jahr vor dem Urteilsspruch hatte
zu Perugia das Generalkapitel der Franziskaner getagt und eben diese Ansicht vertreten; indem der Papst
also die einen verurteilte, verurteilte er zugleich auch die anderen. Denn wie ich bereits gesagt habe, die
Haltung der Franziskaner störte den Papst beträchtlich in seinem Kampf gegen den Kaiser, und das war der
Grund. So mußten denn in den folgenden Jahren zahlreiche schlichte Brüder, die weder vom Kaiser noch
von Perugia viel wußten, elendiglich in den Flammen sterben.
All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich mich der Betrachtung eines so legendären
Mannes wie Ubertin hingab. Mein guter Meister hatte mich ihm vorgestellt, und der Greis hatte mir die
Wange gestreichelt mit einer warmen, ja geradezu heißen Hand. Und bei der Berührung durch diese Hand
hatte ich plötzlich vieles von dem verstanden, was ich gehört über diesen heiligen Mann und was ich gelesen
in seinem Arbor Vitae; ich verstand nun auf einmal, welches mystische Feuer ihn verzehrt hatte seit seiner
Jugend, als er, obwohl Student in Paris, sich von den theologischen Spekulationen abgewandt hatte und sich
einbildete, er sei in die Büßerin Magdalena verwandelt; ich verstand seine intensiven Beziehungen zu der
heiligen Angela von Foligno, die ihn eingeführt hatte in die Schätze der Mystik und in die Anbetung des
Kreuzes; und ich verstand nun auch, warum seine Oberen ihn eines Tages, besorgt über den glühenden Eifer
seiner Predigt, in die Bergeinsamkeit des apenninischen Klosters La Verna geschickt hatten.
Ich betrachtete seine Züge, die mir sanft erschienen wie die der Heiligen, mit der er so intensiven
brüderlichen Verkehr und innigen spirituellen Austausch gepflogen. Wieviel härter mußten diese Züge
damals im Jahre 1311 gewesen sein, als er sich dem feingesponnenen Kompromiß des Konzils zu Vienne
widersetzte! Das Konzil hatte nämlich mit seinem Dekretale Exivi de paradiso einerseits jene
franziskanischen Oberen entmachtet, die den Spiritualen feindlich gesonnen waren, andererseits aber
diesen auferlegt, fürderhin friedlich im Schoße des Ordens zu leben. Ubertin jedoch, dieser unbeugsame
Verfechter eines asketischen Lebens, hatte den Kompromiß abgelehnt und sich für die Gründung eines
unabhängigen, streng zur Armut verpflichteten Ordens eingesetzt. Am Ende hatte der große Kämpfer
seinen Kampf freilich doch verloren, denn in den folgenden Jahren führte Johannes XXII. seinen Kreuzzug
gegen die Anhänger des schon genannten Petrus Johannis Olivi (zu denen auch Ubertin gerechnet wurde)
und verurteilte die Brüder und Schwestern von Narbonne und Béziers als Ketzer. Dennoch hatte Ubertin
nicht gezögert, das Andenken des Freundes gegenüber dem Papst zu verteidigen, und dieser, überwältigt
von der Heiligkeit des großen Asketen, hatte es nicht gewagt, auch ihn zu verurteilen (obwohl er die anderen
alle verurteilte). Ja, er hatte ihm sogar ein Leben in Ruhe und Sicherheit angeboten, indem er ihm zuerst riet
und dann befahl, dem Orden der Cluniazenser beizutreten. Ubertin, der offenbar großes Geschick besaß (so
zart und zerbrechlich er wirkte), sich Protektion und Verbündete am päpstlichen Hof zu verschaffen, hatte
sich daraufhin zwar bereit erklärt, in das flandrische Kloster Gemblach zu gehen, ist dann aber, soweit ich
weiß, niemals dorthin gegangen, sondern in Avignon geblieben, um unter der schützenden Hand des
Kardinals Orsini die Sache der Franziskaner zu verteidigen.
Erst in letzter Zeit (ich hatte darüber nur vage Gerüchte gehört) hatte sein Glück bei Hofe sich gewendet,
jedenfalls mußte er Avignon verlassen, und seither ließ der Papst diesen unbeugsamen Mann verfolgen als
Ketzer qui per mundum discurrit vagabundus. Er galt als spurlos verschwunden . . . Heute morgen hatte ich
aus dem Gespräch zwischen William und dem Abt erfahren, daß er sich hier in dieser Abtei aufhielt. Und
nun stand er vor mir!
»Denk nur, William«, sagte er gerade, »sie waren bereits soweit, daß sie mich umbringen wollten. Ich
mußte bei Nacht und Nebel fliehen!«
»Wer wollte deinen Tod? Johannes?«
»Nein. Johannes hat mich zwar nie gemocht, aber stets respektiert. Er war es im Grunde auch, der damals
vor zehn Jahren verhindert hatte, daß es zum Prozeß gegen mich kam, indem er mir auferlegte, zu den
Benediktinern zu gehen. Dagegen konnten meine Feinde nichts sagen. Sie haben lange gemurrt und
gestichelt, sie machten sich lustig über die Tatsache, daß ein so strenger Verfechter der Armut in einen so
reichen Orden eintrat und dazu noch am Hofe des Kardinals Orsini lebte . . . William, du weißt, wie wenig
mir an den Dingen dieser Welt liegt! Aber, verstehst du, das war die einzige Möglichkeit, in Avignon zu
bleiben und meine Mitbrüder zu verteidigen. Der Papst hat Angst vor Orsini, er hätte mir niemals ein Haar
gekrümmt. Noch vor drei Jahren schickte er mich als Botschafter zum König von Aragonien.«
»Wer war es dann, der dir übel wollte?«
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»Alle. Die Kurie. Zweimal haben sie versucht, mich zu ermorden. Sie wollten mich unbedingt zum
Schweigen bringen. Du weißt, was vor fünf Jahren geschehen ist. Die Beginen von Narbonne waren schon
zwei Jahre lang verurteilt, und Berengar Talloni, der immerhin selber einer der Richter gewesen war, hatte
den Papst um eine Revision des Urteils ersucht. Es waren schwierige Zeiten für uns, Johannes hatte bereits
zwei Bullen gegen die Spiritualen erlassen, und sogar Michael von Cesena hatte nachgegeben . . . Übrigens,
wann kommt er?«
»Er wird in zwei Tagen hier sein.«
»Michael . . . Wie lange habe ich ihn nicht gesehen! Inzwischen hat er sich wieder besonnen, er hat jetzt
begriffen, was wir wollen, das Kapitel von Perugia hat uns recht gegeben. Aber damals, und noch 1318, ist
er vor dem Papst zurückgewichen und hat ihm fünf provencalische Mitbrüder ausgeliefert, die sich nicht
unterwerfen wollten. Sie sind verbrannt worden, William . . . Oh, es war schrecklich!« Ubertin schlug sich
die Hände vors Gesicht.
»Aber sag mir«, fragte William, »was genau geschah nach dem Revisionsgesuch von Talloni?«
»Johannes mußte die ganze Debatte neu eröffnen, verstehst du? Er mußte, denn auch in der Kurie gab es
Männer, die vom Zweifel erfaßt worden waren, auch die Franziskaner bei Hofe – Pharisäer, scheinheilige
Leisetreter, die immer bereit sind, sich zu verkaufen für eine Pfründe –, auch sie waren vom Zweifel erfaßt.
Angesichts dieser Lage bat mich Johannes, eine Denkschrift zu verfassen. Sie ist gut geworden, William,
Gott vergebe mir meinen Hochmut . . .«
»Ich habe sie gelesen, Michael hat sie mir gezeigt.«
»Es gab Schwankende, auch unter uns, zum Beispiel der Provinzial von Aquitanien, der Kardinal von San
Vitale, der Bischof von Kaffa . . .«
»Der ist ein Idiot«, warf William ein.
»Requiescat in pace, Gott hat ihn vor zwei Jahren zu sich genommen.«
»So barmherzig ist Gott leider nicht gewesen. Es war eine Falschmeldung aus Konstantinopel. Er weilt
immer noch unter uns, es heißt sogar, er gehöre zur päpstlichen Legation. Gott schütze uns vor ihm!«
»Aber er befürwortet doch die Resolution von Perugia«, sagte Ubertin.
»Eben. Er gehört zu jener Sorte von Menschen, die immer die besten Pferde im Stall ihrer Gegner sind.«
»Um die Wahrheit zu sagen«, räumte Ubertin ein, »er war unserer Sache auch damals nicht gerade
dienlich. Die ganze Angelegenheit ist dann praktisch im Sande verlaufen, aber wenigstens war nicht offiziell
erklärt worden, daß die Idee als solche häretisch sei, und das war wichtig. Darum haben die anderen mir
dann auch nie verziehen. Sie haben versucht, mir auf jede Weise zu schaden, sie haben zum Beispiel
behauptet, ich sei damals vor drei Jahren in Sachsenhausen gewesen, als Kaiser Ludwig den Papst zum
Ketzer erklärte – dabei wußten sie alle genau, daß ich den ganzen Juli über in Avignon bei Orsini gewesen
war . . . Sie meinten tatsächlich, in Teilen der kaiserlichen Erklärung einen Widerhall meiner Ideen zu finden
. . . Was für ein Unsinn!«
»So unsinnig war das gar nicht«, sagte William. »Die Ideen hatte ich dem Kaiser geliefert, und ich hatte
sie deiner Denkschrift von Avignon entnommen und einigen Abschnitten von Olivi.«
»Du?« rief Ubertin halb verblüfft und halb freudig. »Dann gibst du mir also recht!?«
William schien ein wenig verlegen. »Es waren gute Ideen für den Kaiser, damals . . .«, sagte er
ausweichend.
Ubertin sah ihn mißtrauisch an. »Aha. Aber in Wirklichkeit hältst du nicht viel davon, stimmt's?«
»Erzähl mir noch mehr von dir«, lenkte William ab. »Erzähl mir, wie es dir gelungen ist, dich vor diesen
Hunden zu retten.«
»Ja, Hunde sind sie, wütende Hunde! Stell dir vor, William, ich mußte sogar mit Bonagratia streiten!«
»Aber Bonagratia von Bergamo steht doch auf unserer Seite!«
»Ja, jetzt, nachdem ich lange mit ihm geredet habe. Erst danach war er überzeugt und protestierte gegen
die Ad conditorum canonum – und dafür hat der Papst ihn dann ein Jahr lang einkerkern lassen.«
»Ich habe gehört, daß er jetzt einem meiner Freunde in der Kurie nahesteht, William von Ockham.«
»Den hab' ich nicht gut gekannt. Er gefiel mir nicht. Ein Mann ohne Wärme, nur Kopf, kein Herz.«
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»Aber ein guter Kopf.«
»Mag sein, und doch wird er ihn zur Hölle tragen.«
»Gut, dann werde ich ihm dort begegnen, und wir werden über Logik disputieren.«
»Sag so was nicht, William!« erwiderte Ubertin lächelnd und liebevoll. »Du bist besser als deine
Philosophen. Ach, hättest du damals nur gewollt . . .«
»Was?«
»Weißt du noch, wann wir uns das letzte Mal sahen, damals in Umbrien? Erinnerst du dich? Ich war
gerade erst von meinen Übeln genesen dank der Fürbitte jener wunderbaren Frau . . . Clara von
Montefalco«, murmelte er mit leuchtenden Augen. »Clara . . . Wenn die weibliche Natur, die von Natur so
pervers ist, sich in der Heiligkeit sublimiert, kann sie zum höchsten Gefäß der Anmut werden. Du weißt, daß
mein Leben vom Streben nach höchster Keuschheit erfüllt ist, William«, er faßte ihn sichtlich erregt am Arm.
»Du weißt, mit welch wildem – ja, wild ist das richtige Wort – mit welch wildem Verlangen nach Buße ich
versucht habe, die Triebe des Fleisches in mir abzutöten, um mich ganz und gar transparent zu machen für
die Liebe Jesu, des Gekreuzigten . . . Und doch waren drei Frauen in meinem Leben für mich drei
himmlische Botschafterinnen: Angela von Foligno, Margherita von Città di Castello (die mir das Ende
meines Buches eingab, als ich erst ein Drittel davon geschrieben) und schließlich Clara von Montefalco. Es
war ein Geschenk des Himmels, daß mir, ausgerechnet mir die Aufgabe zufiel, ihre Wundertaten zu
untersuchen und dem Volk ihre Heiligkeit zu verkünden, bevor noch unsere heilige Mutter Kirche sich
rührte. Und du warst damals dabei, lieber William, und du hättest mir helfen können bei diesem heiligen
Unternehmen, aber du wolltest nicht . . .«
»Das heilige Unternehmen, zu dem du mich einludst, lieber Ubertin, bestand darin, die Brüder
Bentivenga, Jacomo und Giovannuccio auf den Scheiterhaufen zu befördern«, entgegnete William sanft.
»Sie waren im Begriff, mit ihren Perversionen das Andenken der Heiligen zu verdunkeln. Und du warst
damals Inquisitor!«
»Und genau damals bat ich um Entlassung aus diesem Amt. Die Geschichte gefiel mir nicht. Mir gefiel
auch nicht, um es offen zu sagen, wie du Bentivenga dazu gebracht hattest, seine Verfehlungen zu gestehen.
Du hast so getan, als wolltest du in seine Sekte eintreten, wenn es denn eine Sekte war, hast ihm seine
Geheimnisse entlockt und ihn dann verhaften lassen.«
»Nun ja, das ist eben die Art, wie man gegen die Feinde Christi vorgeht. Sie waren Häretiker, sie waren
falsche Apostel, sie strömten den Schwefelgeruch Fra Dolcinos aus.«
»Sie waren die Freunde Claras.«
»Nein, William, nie darfst du das Andenken Claras verdunkeln, nicht einmal mit einem Schatten!«
»Aber sie verkehrten in Claras Gruppe . . .«
»Sie waren Minoriten, sie nannten sich Spiritualen, aber sie waren Brüder der Gemeinde! Und du weißt,
für die Untersuchung war es klar, daß Bentivenga von Gubbio sich Apostel nannte und daß er zusammen
mit Giovannuccio von Bevagna Nonnen verführte, indem er ihnen einflüsterte, es gebe gar keine Hölle und
man könne die fleischlichen Gelüste befriedigen, ohne Gott zu beleidigen, man dürfe den Corpus Christi
empfangen, nachdem man (der Herr vergebe mir!) bei einer Nonne gelegen, und dem Herrn sei die
Sünderin Magdalena lieber gewesen als die hehre Jungfrau, und den das Volk Dämon nenne, der sei in
Wahrheit Gott selber, denn der Dämon sei Weisheit und Gott sei Weisheit! Und es war die selige Clara, die,
nachdem sie solche Reden gehört, ihre große Vision hatte, in welcher ihr Gott höchstpersönlich sagte, daß
jene Verführer üble Jünger des Spiritus Libertatis waren!«
»Sie waren Minoriten, deren Geist von den gleichen Visionen erfüllt war, wie sie Clara gesehen hatte,
und oft ist es nur ein sehr kleiner Schritt von der ekstatischen Vision zum sündhaften Rausch«, sagte
William.
Ubertin ergriff Williams Hände, und erneut füllten sich seine Augen mit Tränen. »Sag so was nicht,
William! Wie kannst du verwechseln zwischen dem Augenblick der ekstatischen Liebe, die dir die
Eingeweide verbrennt mit dem Duft des Weihrauchs, und dem betäubenden Rausch der Sinne, der nach
Schwefel riecht! Bentivenga hat dazu angestiftet, die nackten Glieder von Körpern zu berühren, er hat
behauptet, nur dadurch könne man sich aus dem Reich der Sinne befreien, homo nudus cum nuda iacebat . . .«
»Et non commiscebantur ad invicem . . .«
»Lüge! Sie suchten das Vergnügen, wenn der fleischliche Trieb sich regte, sie hielten es nicht für Sünde,
Der Name der Rose – Erster Tag
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wenn Mann und Frau zusammenlagen, um ihn zu befriedigen, wenn sie einander an allen Körperteilen
berührten und küßten, wenn einer seinen nackten Bauch mit dem nackten Bauch der anderen vereinte!«
Ich muß gestehen, daß die Art, wie Ubertin die Laster anderer stigmatisierte, mich nicht gerade zu
tugendhaften Gedanken anregte. William hatte wohl meine Verwirrung bemerkt, denn er unterbrach den
heiligen Mann und sagte:
»Du bist ein feuriger Geist, Ubertin, du brennst in der Liebe zu Gott wie im Haß auf das Böse. Was ich
sagen wollte, war lediglich, daß zwischen dem Feuer der Seraphim und dem Feuer des Luzifer nur ein
geringer Unterschied ist, denn beide entspringen einer extremen Entzündung des Willens.«
»Oh doch, es gibt einen großen Unterschied, und ich kenne ihn«, sagte Ubertin mit leuchtenden Augen.
»Du willst sagen, daß der Wille zum Guten und der Wille zum Bösen nah beieinanderliegen, weil es in
beiden Fällen nur um die Ausrichtung ein und desselben Willens geht. Das ist wahr. Aber der Unterschied
liegt eben genau in dieser Ausrichtung auf verschiedene Objekte, und die Objekte lassen sich klar
unterscheiden: einerseits Gott, andererseits der Teufel.«
»Und ich fürchte eben, hier nicht mehr genau unterscheiden zu können, Ubertin. War es nicht deine
Angela von Foligno, die eines Tages erzählte, sie sei, erleuchtet vom Geiste, im Grabe Christi gestanden?
Sagte sie nicht, sie habe zuerst seine Brust geküßt, als sie ihn da liegen sah mit geschlossenen Augen, und
dann habe sie seinen Mund geküßt und gespürt, wie seinen Lippen ein unsäglich süßer Duft entströmt sei,
und nach einer kleinen Weile habe sie ihre Wange auf Christi Wange gelegt, und Christus habe seine Hand
ihrer Wange genähert und sie fest an sich gezogen, und ihr Entzücken – so sagte sie – sei übermächtig
geworden?«
»Was hat das mit dem Ansturm der Sinne zu tun?« fragte Ubertin. »Das war eine mystische Erfahrung,
und jener Leib war der Corpus Domini Nostri!«
»Nun, vielleicht habe ich mich zu lange in Oxford aufgehalten«, erwiderte William, »wo auch die
mystischen Erfahrungen andersgeartet waren . . .«
»Ganz im Kopf, nicht wahr?« lächelte Ubertin.
»Oder in den Augen. Wenn Gott als Licht empfunden wird, in den Strahlen der Sonne, in den Bildern
der Spiegel, im Spiel der Farben auf den Teilen der wohlgeordneten Materie, in den Reflexen der Morgenröte
auf den taufeuchten Blättern . . . Ist solche Liebe nicht näher der Liebe des heiligen Franz, der Gott in seinen
Geschöpfen pries, in Blumen und Gräsern, in Wasser und Luft? Aus solcher Liebe kann niemals, so glaube
ich, eine schwüle Verlockung kommen. Dagegen mißfällt mir eine Liebe, die ins Zwiegespräch mit dem
Höchsten die Fieberschauer der fleischlichen Berührung einführt . . .«
»Du redest lästerlich, William! Das ist nicht dasselbe. Es liegt ein gewaltiger Unterschied zwischen der
hehren Ekstase dessen, der in Liebe zum gekreuzigten Christus entbrennt, und der frivolen Ekstase der
falschen Apostel von Montefalco . . .«
»Sie waren keine falschen Apostel, sie waren Brüder im Freien Geiste, du hast es selber gesagt.«
»Wo ist da der Unterschied? Du weißt nicht alles, was damals in jenem Prozeß zutage gekommen ist, ich
selbst habe nicht gewagt, gewisse Geständnisse aktenkundig zu machen, weil ich die Aura der Heiligkeit,
die Clara an jenem Ort geschaffen hatte, nicht einmal für einen Augenblick mit dem Schatten des Dämons
verdunkeln wollte. Aber ich habe gewisse Dinge erfahren, gewisse Dinge, William! Sie versammelten sich
bei Nacht im Keller, nahmen ein neugeborenes Kind und warfen es sich einander zu, bis es an den
Erschütterungen und Stößen – oder an anderem – starb, und wer es als letzter lebend auffing, so daß es in
seinen Händen starb, der wurde zum Oberhaupt ihrer Sekte . . . Und der Körper des Kindes wurde zerrissen,
und die Teile wurden zerstampft und dem Mehl beigemischt, aus dem sie blasphemische Hostien buken!«
»Ubertin«, sagte William mit fester Stimme, »diese Dinge sind vor Jahrhunderten den armenischen
Bischöfen nachgesagt worden, der Paulizianer-Sekte und später den Bogomilen.«
»Was besagt das schon? Der Dämon ist blöde und einfallslos, er hält sich in seinen Verlockungen und
Verführungen an einen sturen Rhythmus, er wiederholt seine Riten über Jahrtausende, er bleibt sich immer
gleich, und eben daran erkennt man ihn als den Feind! Ich schwöre dir, sie zündeten Kerzen in der
Osternacht an und holten sich junge Mädchen in den Keller. Dann löschten sie die Kerzen und warfen sich
in der Dunkelheit auf die Mädchen, mochten diese auch mit ihnen verbunden sein durch Blutsbande . . .
Und wenn dann aus dieser blinden Vermischung ein Kind entstand, begann der höllische Ritus von neuem,
alle versammelten sich um einen Bottich mit Wein, den sie ›das Tönnchen‹ nannten, um sich daran zu
berauschen, und rissen das Neugeborene in Stücke und gössen sein Blut in eine Schale! Und sie warfen
Der Name der Rose – Erster Tag
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Kinder lebendig ins Feuer und mischten die Asche der Kinder mit ihrem Blut und tranken es!«
»Genau das schrieb Michael Psellos vor dreihundert Jahren in seiner Dämonologie. Wer hat dir diese
Dinge erzählt?«
»Sie, Bentivenga und die anderen, unter der Folter.«
»Es gibt nur eins, was die Menschen mehr erregt als die Lust, Ubertin, und das ist der Schmerz. Unter
der Folter lebst du wie im Reich der Kräuter und Säfte, die Visionen erzeugen. Alles, was du jemals gehört,
alles, was du jemals gelesen hast, kommt dir aufs lebhafteste in den Sinn, als wärst du entrückt, aber nicht
zum Himmel, sondern zur Hölle. Unter der Folter sagst du nicht nur, was der Inquisitor von dir erwartet,
sondern auch, was ihm vielleicht gefällt und Vergnügen bereitet, damit zwischen ihm und dir ein inniges
(und nun wirklich diabolisches) Band entsteht . . . Ich weiß diese Dinge, Ubertin, ich habe selber zu jenen
Leuten gehört, die meinten, sie könnten die Wahrheit mit glühenden Zangen ans Licht bringen. Doch wisse,
die Glut der Wahrheit ist von anderer Flamme! Unter der Folter kann dir Bentivenga die absurdesten
Lügengeschichten erzählt haben, denn nicht er sprach in jenem Augenblick, sondern seine Wollust, das
Dämonische in seiner Seele.«
»Seine Wollust?«
»Ja, es gibt eine Wollust des Schmerzes, wie es eine Wollust der Anbetung gibt und sogar eine Wollust
der Demut. Bedenke, wenn selbst den aufbegehrenden Engeln so wenig genügte, um ihre Inbrunst der
Anbetung und der Demut umschlagen zu lassen in eine Inbrunst der Hoffart und der Rebellion gegen Gott,
was soll man dann von den schwachen Menschen sagen? Dieser Gedanke war es, nun weißt du's, der mir
im Verlauf meiner Inquisitionen kam. Und genau darum verzichtete ich auf diese Tätigkeit. Mir schwand der
Mut, die Schwächen der Übeltäter zu untersuchen, als ich entdeckte, daß sie auch die Schwächen der
Heiligen sind.«
Den letzten Worten meines Herrn und Meisters hatte Ubertin zugehört, als verstünde er immer weniger,
wovon die Rede war. Am Ausdruck seines Gesichtes, das zunehmend Mitleid bekundete, sah ich, daß er
William für das Opfer heftiger Schuldgefühle hielt, die er ihm freilich verzieh, weil er ihn sehr liebte. So
unterbrach er ihn und sagte enttäuscht: »Wenn du solche Gefühle hattest, tatest du sicher gut daran, dein
schweres Amt niederzulegen. Mir aber fehlte damals deine Hilfe, gemeinsam hätten wir jene üble Bande
zerschlagen können. Statt dessen wurde ich, wie du weißt, dann selber der Ketzerei beschuldigt. Ach
William, auch du warst also zu schwach im Kampfe gegen das Übel! Das Übel, William – wird dieser Fluch
denn niemals enden, diese Finsternis, dieser Morast, der uns hindert, zur reinen Quelle vorzudringen?« Er
trat noch einen Schritt näher an William heran, als hätte er Angst, daß ihn jemand hörte: »Auch hier geht es
um, auch hier in diesen geweihten Mauern! Weißt du es?«
»Ich weiß es, der Abt hat es mir gesagt, er hat mich sogar gebeten, ihm bei der Aufklärung behilflich zu
sein.«
»Dann suche, forsche, spähe mit Luchsaugen in zwei Richtungen: Wollust und Hoffart . . .«
»Wollust?«
»Ja, Wollust! In diesem Jungen, der nun tot ist, war etwas . . . Weibisches und also Teuflisches. Er hatte
die Augen eines Mädchens, das Verkehr mit dem Inkubus sucht . . . Aber ich sage auch Hoffart: die Hoffart
des Geistes in diesem Kloster, das sich so sehr dem Stolz des Wortes und der Illusion des Wissens hingibt
. . .»
»Wenn du etwas weißt, dann hilf mir!«
»Ich weiß nichts. Es gibt nichts, was ich wissen könnte. Aber manche Dinge fühlt man mit dem Herzen.
Laß dein Herz sprechen, William, befrage stets die Gesichter, höre nicht auf die Zungen . . . Doch was reden
wir hier von so finsteren Dingen und machen unserem jungen Freund Angst!« Er blickte mich an mit seinen
hellblauen Augen und strich mir mit seinen langen weißen Fingern sanft über die Wange, so daß ich
unwillkürlich zurückweichen wollte; doch ich beherrschte mich, denn es hätte ihn verletzt, und seine Absicht
war rein.
»Erzähl mir lieber von dir«, wandte er sich erneut an William. »Was hast du getan in all den Jahren? Wie
lange ist es her . . .«
»Achtzehn Jahre«, antwortete William. »Ich bin in meine Heimat zurückgekehrt und habe in Oxford
meine Studien fortgesetzt. Ich habe die Natur studiert.«
»Die Natur ist gut, denn sie ist Gottes Schöpfung«, sagte Ubertin.
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»Und Gott muß gut sein, wenn er die Natur geschaffen hat«, lächelte William. »Ich habe studiert, ich
habe viele kluge Freunde getroffen. Dann habe ich Marsilius kennengelernt, mich interessierten seine Ideen
über das Reich und das Volk und über ein neues Gesetz für die irdische Herrschaft, und so geriet ich in jene
Gruppe unserer Mitbrüder, die den Kaiser berät. Aber das weißt du ja, ich habe es dir geschrieben. Und als
ich dann eines Tages in Bobbio erfuhr, daß du hier Unterschlupf gefunden hast, jauchzte mein Herz, denn
ich hatte dich für verschollen gehalten. Nun, da du hier bist, kannst du uns sehr behilflich sein, wenn Michael
in ein paar Tagen eintrifft. Es wird einen harten Zusammenstoß geben.«
»Ich habe kaum mehr zu sagen als das, was ich bereits vor fünf Jahren in Avignon sagte. Wer wird mit
Michael kommen?«
»Einige Brüder, die beim Kapitel in Perugia waren. Arnold von Aquitanien, Hugo von Newcastle . . .»
»Wer?«
»Hugo von Novocastrum, entschuldige, ich falle manchmal in meine Sprache, auch wenn ich gutes
Latein spreche. Auch Wilhelmus Alnwick ist zu erwarten. Und von den Franziskanern aus Avignon kommen
Hieronymus, der Hohlkopf von Kaffa, und vielleicht auch Berengar Talloni und Bonagratia von Bergamo.«
»Hoffen wir zu Gott«, seufzte Ubertin, »daß sie sich nicht allzusehr mit dem Papst verfeinden! Und wer
wird die Position der Kurie vertreten? Ich meine, wer von den Harten?«
»Aus den Briefen, die ich erhalten habe, schließe ich auf Lorenz Decoalcon . . .«
»Ein tückischer Mensch!«
»Jean d'Anneaux . . .«
»Ein durchtriebener Theologe, hütet euch vor ihm!«
»Wir werden uns hüten. Schließlich Jean de Baune.«
»Den möchte ich mit Berengar sehen, das wird was geben!«
»Ja, ich glaube, wir werden uns gut amüsieren«, sagte William in bester Laune. Ubertin sah ihn unsicher
lächelnd an.
»Nie weiß ich, wann ihr Engländer etwas im Ernst sagt und wann ihr scherzt! Ich sehe nichts Amüsantes
in einer so folgenschweren Begegnung. Es geht schließlich um das Überleben des Ordens, welcher der deine
ist und im Innersten auch der meine . . . Aber ich werde Michael von Cesena beschwören, nicht nach
Avignon zu gehen. Johannes will ihn dort haben, er sucht ihn, lädt ihn allzu beharrlich ein. Hütet euch vor
diesem alten französischen Fuchs! Oh Herr, in welche Hände ist Deine Kirche gefallen . . .« Er wandte sich
zum Altar. »Verwandelt in eine Dirne, im Luxus verweichlicht, suhlt sie sich in Wollust wie eine Schlange
im Sonnenglast. Von der schlichten Reinheit des Stalles zu Bethlehem, Holz wie hölzern das lignum vitae des
Kreuzes war, zu den Bacchanalien in Stein und Gold! Siehe, auch diese Abtei ist nicht frei davon, hast du das
Portal gesehen? Dem Hochmut der Bilder vermag man sich nicht zu entziehen . . . Sehr nahe schon sind die
Tage, da der Antichrist kommen wird, und ich fürchte mich, William!« Zitternd schaute der Greis sich um,
starrte mit aufgerissenen Augen ins Dunkel des Kirchenschiffes, als würde der Antichrist jeden Augenblick
auftauchen, und auch ich schaute mich unwillkürlich um. »Seine Statthalter sind bereits da, von ihm
ausgesandt, wie Christus seine Jünger aussandte in die Welt. Sie verderben die Stätte Gottes, verführen mit
List, Heuchelei und Gewalt! Es ist Zeit, daß der Herr seine Diener aussendet, Elias und Enoch, die er am
Leben erhielt im irdischen Paradies, auf daß sie kommen, die neue Zeit zu verkünden im härenen Kleid und
Buße zu predigen mit dem eigenen Beispiel und mit dem Wort . . .«
»Sie sind schon gekommen, Ubertin«, sagte William und zeigte auf seine franziskanische Kutte.
»Aber sie haben noch nicht gewonnen, und über ein kleines wird der Antichrist voller Wut befehlen,
Enoch und Elias zu töten und ihre Leichen hinzuwerfen, auf daß ein jeder sie sehe und sich fürchte. So wie
man mich töten wird . . .«
Erschrocken dachte ich, als ich Ubertin so reden hörte, daß er einer Art göttlichem Wahn verfallen sei,
und sorgte mich um seinen Verstand. Heute, da ich weiß, daß er wenige Jahre später in einer deutschen Stadt
auf mysteriöse Weise ermordet wurde, und niemand hat je erfahren, von wem, packt mich noch größeres
Entsetzen, denn offenbar sah Ubertin damals in die Zukunft.
»Du weißt es, der Abt Joachim hat die Wahrheit gesprochen. Wir befinden uns in der sechsten Ära der
Menschengeschichte, in welcher erscheinen werden zwei Antichristen, der mystische Antichrist und der
wirkliche, und dies wird geschehen im sechsten Zeitalter, nachdem Franziskus gekommen ist, zu verkörpern
in seinem Fleische die fünf Wunden des Gekreuzigten. Bonifaz war der mystische Antichrist, und Coelestins
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Abdankung war nicht gültig. Bonifaz war das Tier, das aus dem Meere steigt und dessen sieben Häupter die
Angriffe auf die sieben Todsünden sind und dessen zehn Hörner die Angriffe auf die Zehn Gebote, und die
Kardinäle, die ihn umgaben, waren die Heuschrecken, deren Leib Apollyon ist! Doch die Zahl des Tiers,
wenn du den Namen in griechischen Lettern liesest, ist Benedicti . . .«
Ubertin blickte mich prüfend an, um zu sehen, ob ich verstanden hatte, und sprach mit erhobenem
Finger: »Wisse, mein Sohn, Papst Benedikt XI. war der wirkliche Antichrist, das Tier, das aus der Erde steigt!
Gott hat es zugelassen, daß dieses Ungeheuer an Laster und Frevel seine Kirche regierte, damit die Tugend
seines Nachfolgers um so heller erstrahle . . .«
»Aber, ehrwürdiger Vater«, wandte ich zaghaft ein, »sein Nachfolger ist Johannes!«
Ubertin stutzte und wischte sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er einen lästigen Traum
verscheuchen. Er atmete schwer und schien müde. »Mag sein. Die Berechnungen waren falsch. Wir warten
noch immer auf den Papa Angelicus . . . Doch unterdessen sind immerhin Franziskus und Domenikus
gekommen.« Er hob die Augen zum Himmel und sprach wie im Gebet (doch ich war sicher, daß er eine
Stelle aus seinem großen Buch über den Baum des Lebens rezitierte): »Quorum primus seraphico calculo
purgatus et ardore celico inflammatus, totum incendere videbatur. Secundus vero verbo predicationis fecundus super
mundi tenebras darius radiavit . . . Jawohl, wenn dies die Verheißungen sind, wird der Papa Angelicus sicher
kommen.«
»So sei es, Ubertin«, sagte William. »Einstweilen aber bin ich gekommen, um zu verhindern, daß der
menschliche Kaiser vertrieben wird. Von deinem Papa Angelicus sprach auch Fra Dolcino . . .«
»Nie wieder darfst du den Namen dieser Schlange aussprechen!« fuhr Ubertin auf, und zum ersten Mal
sah ich ihn, der bisher so gefaßt wirkte, wutverzerrt. »Er hat die Worte Joachims von Fiore besudelt, er hat
sie zur Quelle von Tod und Verderben gemacht! Er war der Abgesandte des Antichrist, wenn je es einen gab!
Daß du so reden kannst, William, liegt nur daran, daß du in Wahrheit nicht an das Kommen des Antichrist
glaubst, deine Lehrer in Oxford haben dich stets nur gelehrt, die Vernunft zu verehren, und dabei sind die
prophetischen Kräfte deines Herzens verdorrt!«
»Du irrst, Ubertin«, sagte William sehr ernst. »Du weißt, daß ich am meisten unter meinen Lehrern den
großen Roger Bacon verehre . . .«
». . . der sich eitlen Träumen über Flugmaschinen hingab«, spottete Ubertin.
». . . der klar und deutlich über den Antichrist sprach, der die Vorzeichen seiner Ankunft in der
Verderbnis der Welt erblickte und in der Schwächung der Weisheit. Allerdings lehrte er, daß es nur eine Art
und Weise gibt, sich auf seine Ankunft vorzubereiten: die Geheimnisse der Natur zu studieren und das
Wissen zu nutzen, um die menschliche Gattung zu verbessern. Auf den Kampf gegen den Antichrist kann
man sich vorbereiten, indem man die heilenden Kräfte der Kräuter studiert und die Natur der Steine – und
sogar, indem man jene Flugmaschinen entwirft, über die du spottest.«
»Der Antichrist deines Roger Bacon war nur ein Vorwand, um dem Stolz der kalten Vernunft zu frönen.«
»Ein heiliger Vorwand.«
»Kein Vorwand ist heilig! Mein lieber William, du weißt, daß ich dich liebe. Du weißt, daß ich dir vertraue.
Züchtige deine Intelligenz, lerne zu weinen über die Wunden des Herrn, wirf deine Bücher weg!«
»Ich werde nur eins behalten: das deine«, versetzte William lächelnd. Auch Ubertin lächelte und sagte,
einen Finger drohend erhoben: »Narr von einem Engländer! Aber spotte nicht zu sehr über deinesgleichen.
Im Gegenteil, wen du nicht lieben kannst, den fürchte! Und hüte dich vor der Abtei. Dieser Ort gefällt mir
nicht.«
»Ich möchte ihn besser kennenlernen«, sagte William zum Abschied. »Gehen wir, Adson.«
»Du bist unverbesserlich. Ich sage dir, daß mir der Ort nicht gefällt, und du erwiderst, du möchtest ihn
besser kennenlernen! Ah!« sagte Ubertin kopfschüttelnd.
»Übrigens«, fragte William zum Abschluß, schon im Gehen, »wer ist jener Mönch, der das Aussehen
einer Bestie hat und die Sprache Babels spricht?«
Ubertin, der schon wieder auf den Knien war, blickte noch einmal auf. »Salvatore? Ich glaube, den hat
die Abtei mir zu verdanken . . . den und den Cellerar. Als ich damals die franziskanische Kutte ablegte, ging
ich für einige Zeit zurück in mein altes Konvent von Casale, und dort fand ich eine Reihe verängstigter
Brüder, denen man vorwarf, sie seien Spiritualen meiner ›Sekte‹, wie man sich auszudrücken beliebte. Ich
setzte mich für sie ein und erreichte, daß sie meinem Beispiel folgen und den Orden verlassen durften. Zwei
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von ihnen, Salvatore und Remigius, fand ich dann hier, als ich vor einem Jahr in diese Abtei kam. Salvatore
. . . ja, er sieht wirklich wie eine Bestie aus. Aber er ist sehr dienstbeflissen.«
William zögerte einen Augenblick. »Ich hörte ihn penitenziagite sagen.«
Ubertin schwieg. Dann bewegte er eine Hand, wie um einen bösen Gedanken zu verscheuchen, und
sagte schließlich: »Nein, nein, ich kann es nicht glauben. Du weißt doch, wie diese Laienbrüder sind. Leute
vom Land, die vielleicht einen Wanderprediger hörten und die nicht wissen, was sie da nachplappern.
Salvatore hat andere Laster, er ist ein gefräßiges Naschmaul und lüstern. Aber niemals verstößt er gegen die
Rechtgläubigkeit! Nein, das Übel dieser Abtei ist ein anderes, suche es lieber in denen, die zuviel wissen,
nicht in denen, die unwissend sind. Errichte nicht auf einem einzigen Wort ein ganzes Verdachtsgebäude!«
»Das würde ich niemals tun«, erwiderte William. »Ich habe das Amt des Inquisitors niedergelegt, um
genau das zu vermeiden. Aber ich achte gern auf die Worte und denke gelegentlich darüber nach.«
»Du denkst zuviel nach, lieber William! Und du, mein Junge«, wandte der Greis sich zu mir, »hüte dich
davor, dem schlechten Beispiel deines Meisters zu folgen! Das einzige, worüber man nachdenken muß, und
dessen werde ich mir an meinem Lebensabend bewußt, ist der Tod. Mors est quies viatoris – finis est omnis
laboris . . . Laßt mich beten.«
Der Name der Rose – Erster Tag
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ERSTER TAG
GEGEN NONA
Worin William ein sehr gelehrtes Gespräch führt mit dem Bruder Botanikus Severin.
Wir gingen zurück durch das dunkle Hauptschiff und verließen die Kirche durch dasselbe Portal, durch
das wir eingetreten waren. Ich hatte noch immer Ubertins Worte im Sinn, alle, und mir schwirrte der Kopf.
»Er ist . . . ein seltsamer Mann«, sagte ich zögernd zu William.
»Er ist – oder war – in vieler Hinsicht ein großer Mann. Doch eben darum ist er seltsam. Nur kleine
Menschen scheinen normal. Ubertin hätte leicht einer von jenen Häretikern werden können, die er
verbrennen ließ, und ebenso leicht ein Kardinal der heiligen römischen Kirche. Er ist beiden Perversionen
sehr nahegekommen. Wenn ich mit Ubertin spreche, habe ich immer den Eindruck, daß die Hölle nichts
anderes ist als das Paradies, von der anderen Seite betrachtet.«
Ich verstand nicht: »Von welcher Seite?«
»Nun ja, du hast recht«, gab William zu, »es fragt sich, ob es überhaupt Teile gibt, und es fragt sich, ob es
ein Ganzes gibt . . . Aber hör nicht auf mich. Und schau nicht noch einmal auf dieses Portal«, sagte er und
klopfte mir leicht auf die Schulter, als ich mich umdrehen wollte, um die Skulpturen noch einmal zu sehen,
die mir vorhin soviel Eindruck gemacht hatten. »Für heute haben sie dich genug erschreckt. Alle.«
Als wir in den Hof traten, stand vor uns ein anderer Mönch. Er mochte etwa in Williams Alter sein. Er
lächelte, verbeugte sich höflich und sagte, er heiße Severin von Sankt Emmeram und sei hier der Bruder
Botanikus, dem die Pflege der Bäder, des Hospitals und der Gärten obliege, und er stehe uns zu Diensten,
falls wir die Absicht hätten, uns auf dem Gelände der Abtei ein wenig genauer umzusehen.
William bedankte sich und erwiderte, er habe bereits den herrlichen Garten bemerkt, der offenbar nicht
nur eßbare Pflanzen enthalte, sondern auch medizinische Kräuter, soweit man es unter dem Schnee
erkennen könne.
»Zur Sommerzeit oder im Frühling, wenn die Vielfalt seiner Gewächse in voller Blüte steht, singt dieser
Garten das Lob des Schöpfers noch besser«, sagte Severin wie zur Entschuldigung. »Doch auch in dieser
Jahreszeit sieht das Auge des Botanikers an den trockenen Stengeln, welche Pflanzen hier wieder kommen
werden, und ich kann dir sagen, dieser Garten ist reichhaltiger, als es je ein Herbarium war, und
farbenprächtiger als die schönsten Anlagen irgendwo sonst. Außerdem wachsen einige Heilkräuter auch im
Winter, und andere halte ich wohlversorgt in Töpfen und Krügen bereit, die ich in meinem Laboratorium
habe. So werden zum Beispiel Katarrhe mit den Wurzeln des Sauerampfers geheilt, und gegen
Hautkrankheiten macht man feuchte Umschläge mit dem Absud von Altheenwurzeln, mit der Klette
vernarbt man Ekzeme, mit zerkleinerten und gestampften Rhizomen des Wiesenknöterichs heilt man den
Durchfall und manche Frauenleiden, der Pfeffer ist ein gutes Verdauungsmittel, der Huflattich lindert den
Husten, wir haben auch Enziane, die gut gegen Verstopfung sind, und Glyzyrrhizine, und Wacholder, um
einen guten Tee zu machen, und Holunder, der mit Baumrinde einen stärkenden Sud für die Leber ergibt,
und Wiesenschaumkraut, dessen Wurzeln, in kaltem Wasser aufgeweicht, die Entzündung der
Schleimhäute lindern, und Baldrian, dessen Vorzüge ihr gewiß kennt.«
»Ihr habt sehr verschiedenartige Kräuter aus sehr verschiedenen Klimazonen. Wie kommt das?«
»Zum Teil verdanke ich sie der Gnade des Herrn, der unser Hochplateau so angelegt hat, daß es von
Süden die warmen Winde des Meeres empfängt und von Norden die frische Waldluft aus den höheren
Bergen. Zum anderen Teil verdanke ich sie den Errungenschaften der Kunst, die ich nach dem Willen meiner
Lehrer erlernen durfte. Manche Pflanzen gedeihen auch in feindlichem Klima, wenn man den Boden und
die Nahrung und das Wachstum entsprechend pflegt.«
»Aber Ihr habt doch auch Pflanzen, die nur zum Essen gut sind«, wollte ich wissen.
»Mein hungriger junger Freund, es gibt keine Pflanzen, die nur zum Essen gut sind und nicht auch zur
Behandlung von Übeln, wenn man sie in der richtigen Dosierung nimmt. Nur das Übermaß macht sie zu
Krankheitsursachen. Nimm zum Beispiel den Kürbis: Er ist von Natur aus kühl und feucht und lindert den
Der Name der Rose – Erster Tag
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Durst, doch wenn du zuviel davon ißt, bekommst du Durchfall, und dann mußt du ein Gebräu aus Senf und
Salzlake trinken, damit deine Eingeweide sich zusammenziehen. Oder die Zwiebel: Warm und feucht, in
kleinen Mengen genossen, steigert sie die Potenz (natürlich nur für jene, die nicht unser Gelübde abgelegt
haben), doch in zu großen Mengen macht sie dir Kopfschmerzen und muß dann mit Milch und Essig
bekämpft werden. Ein guter Grund für einen jungen Mönch«, fügte er maliziös hinzu, »stets nur maßvoll
davon zu essen. Nimm lieber Knoblauch. Warm und trocken ist er gut gegen Gifte im Leib. Doch auch hier
sollte man nicht übertreiben, er zieht zu viele Säfte aus dem Gehirn. Bohnen dagegen fordern die
Urinbildung und machen fett, was beides sehr gut ist, aber sie rufen schlechte Träume hervor. Freilich sehr
viel weniger als gewisse andere Gewächse, denn es gibt auch Kräuter, die schlimme Visionen erzeugen.«
»Welche sind das?« fragte ich neugierig.
»He, he, unser Novize möchte zuviel wissen. Diese Dinge darf niemand anderer wissen als der Botanikus,
sonst könnte irgendein Bruder Leichtfuß herumlaufen und den Leuten Visionen verabreichen oder Lügen
eintrichtern mit Hilfe der Kräuter.«
»Aber es genügt ein wenig Brennesselwurz«, schaltete William sich ein, »oder Roybra oder Olieribus, um
sich gegen die Visionen zu schützen.«
Severin sah meinen Meister überrascht von der Seite an. »Interessierst du dich für die Kräuterkunde?«
»Ein ganz klein wenig«, antwortete William bescheiden. »Ich blätterte einmal vor Jahren im Theatrum
Sanitatis von Ububchasym de Baldach . . .«
»Abul Asan al Muchtar ibn Botlan.«
»Oder Ellukasim Elimittar, wie du willst. Ob es hier wohl eine Kopie davon gibt?«
»Mehrere, sehr schöne mit kunstvoll gemalten Bildern.«
»Gelobt sei der Herr. Und wie steht es mit De virtutibus herbarum von Platearius?«
»Auch das ist da, und dazu De plantis von Aristoteles in der Übersetzung des Alfred von Sareshel.«
»Ich habe gehört, daß es in Wahrheit nicht von Aristoteles sei«, bemerkte William, »ebensowenig wie,
einer neuen Entdeckung zufolge, De causis.«
»In jedem Falle ist es ein großes Buch«, sagte Severin, und William stimmte ihm lebhaft zu, ohne
nachzufragen, ob er De plantis oder De causis meinte – zwei Werke, die ich nicht kannte, die aber, nach
diesem Gespräch zu urteilen, offenbar beide sehr bedeutend waren.
»Ich würde mich freuen«, schloß Severin, »gelegentlich mit dir ein offenes Gespräch über die Kräuter zu
führen.«
»Ich würde mich noch mehr freuen als du«, erwiderte William, »aber wir wollen doch nicht das
Schweigegebot verletzen, das uns hier die Regel eures Ordens gebietet.«
»Die Regel des heiligen Benedikt«, sagte Severin, »hat sich im Lauf der Jahrhunderte den Bedürfnissen
der verschiedenen Gemeinschaften angepaßt. Die Regel sah die lectio divina vor, nicht aber die Forschung;
du weißt indessen, wie weit unser Orden das Studium der göttlichen und der menschlichen Dinge
vorangebracht hat. Die Regel verlangte auch das gemeinsame Dormitorium; zuweilen ist es indessen
empfehlenswert, wie hier bei uns, daß die Mönche sich auch zur Nachtzeit der Meditation widmen können,
und so hat hier jeder von uns seine eigene Zelle. Die Regel ist sehr streng, was das Schweigegebot betrifft,
und auch bei uns dürfen nicht nur diejenigen Brüder, die Handarbeiten verrichten, sondern auch die
anderen, die ihre Tage schreibend und lesend verbringen, keine Gespräche mit ihren Confratres fuhren;
doch die Abtei ist in erster Linie eine Gemeinschaft von Forschenden, und so ist es oft erforderlich, daß die
Mönche ihr angesammeltes Wissen untereinander austauschen. Jedes Gespräch, das unsere Studien betrifft,
gilt daher als legitim und nützlich – solange es nicht gerade im Refektorium oder während der Stunden des
Gottesdienstes geführt wird.«
»Hattest du oft Gelegenheit, mit Adelmus von Otranto zu sprechen?« fragte William unvermittelt.
Severin schien nicht überrascht. »Wie ich sehe, hat der Abt dich bereits ins Bild gesetzt«, erwiderte er.
»Nein, mit dem habe ich nicht oft gesprochen. Er verbrachte seine Zeit mit Miniaturenmalerei. Ich habe ihn
nur zuweilen mit anderen Mönchen sprechen gehört, mit Venantius von Salvemec oder mit Jorge von
Burgos zum Beispiel. Außerdem verbringe ich meine Tage nicht im Skriptorium, sondern drüben«, er wies
mit dem Kinn in Richtung auf das Hospital, »im Laboratorium.«
»Verstehe«, sagte William. »Also weißt du auch nicht, ob Adelmus Visionen hatte.«
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»Visionen?«
»Nun ja, zum Beispiel wie jene, die deine Kräuter hervorrufen.«
Severins Züge verhärteten sich: »Ich sagte doch, ich hüte die gefährlichen Kräuter sehr sorgfältig.«
»Das habe ich nicht gemeint«, beeilte sich William zu versichern. »Ich sprach von Visionen im
allgemeinen.«
»Ich verstehe nicht«, beharrte der Bruder Botanikus.
»Nun, ich dachte, daß ein Mönch, der sich zur Nachtzeit im Aedificium herumtreibt, wo dem
Eindringling zu verbotener Stunde, wie der Abt mir andeutete, gewisse . . . entsetzliche Dinge widerfahren
können . . . nun ja, ich dachte, ich meinte, er könnte teuflische Visionen gehabt haben, die ihn dazu trieben,
sich in den Abgrund zu stürzen.«
»Ich sagte doch, ich begebe mich selten in das Skriptorium, nur wenn ich ein bestimmtes Buch brauche,
für den Normalfall habe ich meine Herbarien im Hospital. Aber wie gesagt, Adelmus war sehr vertraut mit
Jorge, mit Venantius und . . . natürlich mit Berengar.«
Ich bemerkte eine leichte Erregung in Severins Stimme, die auch meinem Meister nicht entging:
»Berengar? Und wieso natürlich?«
»Berengar von Arundel, der Adlatus des Bibliothekars. Sie waren Altersgenossen, sie waren zusammen
Novizen gewesen, es war also nur normal, daß sie manches miteinander zu besprechen hatten. Das wollte
ich sagen.«
»Ach so, das wolltest du sagen«, nickte William. Ich wunderte mich, daß er auf diesem Punkt nicht länger
insistierte, denn abrupt wechselte er das Thema und sagte: »Aber vielleicht ist es nun an der Zeit, daß wir
uns ins Aedificium begeben. Willst du uns führen?«
»Gern, mit Vergnügen«, antwortete Severin, und seine Erleichterung stand ihm nur allzu deutlich im
Gesicht geschrieben. So brachen wir auf, und er führte uns am Garten vorbei zur Westfassade des
Aedificiums.
»Hier an der Gartenseite haben wir den Eingang, der in die Küche führt«, erklärte er. »Aber die Küche
nimmt nur die westliche Hälfte des Erdgeschosses ein, in der anderen Hälfte befindet sich das Refektorium.
An der Südseite gibt es noch einen zweiten Eingang, den man erreicht, wenn man hinter der Kirche um den
Chor herumgeht, und von dort gelangt man durch zwei weitere Pforten in die Küche und ins Refektorium.
Aber gehen wir ruhig hier hinein, wir können durch die Küche ins Refektorium gehen.«
Als wir die geräumige Küche betraten, bemerkte ich, daß sich im Innern des Aedificiums ein achteckiger
Hof befand; wie ich später feststellte, handelte es sich um eine Art tiefen Schacht, auf den sich zwar keinerlei
Türen, aber in jedem Stockwerk hohe Fenster öffneten, ähnlich denen, die wir an den Außenmauern
gesehen hatten. Die Küche war eine lange und weite Halle voller Dunst, in der zu dieser Stunde bereits viele
Köche emsig am Werk waren, um das Abendmahl vorzubereiten. An einem großen Tisch machten zwei von
ihnen einen Gemüseauflauf: In eine Masse aus Grünzeug, Gerste, Hafer und Roggen schnitzelten sie gelbe
Rüben, Radieschen, Karotten und Kresse. Neben ihnen hatte ein anderer Koch gerade Fische in einer Brühe
aus Wein und Wasser gekocht und bestrich sie nun mit einer Soße aus Petersilie, Salbei, Thymian,
Knoblauch, Pfeffer und Salz.
Unter dem Westturm am oberen Ende der Küche öffnete sich ein gewaltiger Backofen, worin rötliche
Flammen züngelten. Am anderen Ende, unter dem Südturm, befand sich ein ebenso großer Kamin, über
dessen Feuer sich Bratspieße drehten und Suppen in großen Töpfen brodelten. Durch die Tür, die zur Tenne
hinter der Küche hinausführte, trugen Männer gerade das Fleisch der am Morgen geschlachteten Schweine
herein. Wir durchquerten die Küche und gingen durch diese Tür ins Freie hinaus. Vor uns lag die Tenne: ein
langer Hof, der sich hinter der Kirche am Ostrand des Plateaus nach Süden erstreckte, linker Hand begrenzt
von einer Reihe flacher Bauten, bei denen es sich, wie wir von unserem Führer erfuhren, um die Ställe der
Schweine, der Pferde, der Ochsen, der Hühner und schließlich den überdachten Rinderpferch handelte. Auf
dem Platz vor dem Schweinestall waren Männer damit beschäftigt, in einem großen Bottich das Blut der
frisch geschlachteten Schweine zu rühren, damit es, wie Severin uns erklärte, nicht gerann. Denn wenn es
gut und unverzüglich gerührt werde, fügte er hinzu, bleibe es dank der kalten Witterung mehrere Tage lang
frisch, und dann könne man Blutwurst daraus machen.
Wir gingen zurück ins Aedificium und warfen nur einen kurzen Blick ins Refektorium, das wir
durchqueren mußten, um den Ostturm zu erreichen. Unter dem Nordturm am oberen Ende der Halle sahen
Der Name der Rose – Erster Tag
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wir einen großen Kamin; der Ostturm enthielt eine breite Treppe in Form einer Schnecke, die ins
Obergeschoß zum Skriptorium führte. Über diese Treppe, sagte Severin, begäben die Mönche sich jeden Tag
an ihre Arbeit; oder auch über zwei andere, die enger seien, aber dafür gut beheizt, da sie spiralförmig hinter
dem Kamin sowie hinter dem Backofen in der Küche aufstiegen.
William fragte, ob wir auch sonntags jemanden im Skriptorium antreffen würden. Severin lächelte und
gab zur Antwort, für einen Benediktinermönch sei die Arbeit Gebet, und sonntags seien die Gottesdienste
zwar etwas länger, aber die mit Büchern befaßten Mönche verbrächten gleichwohl ein paar Stunden droben,
meist beschäftigt mit fruchtbarem Austausch gelehrter Bemerkungen, kluger Ratschläge und Reflexionen
über die heiligen Schriften.
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ERSTER TAG
NACH NONA
Worin das Skriptorium besichtigt wird und man viele fleißige Forscher, Kopisten und
Rubrikatoren kennenlernt sowie einen blinden Greis, der auf den Antichrist wartet.
Während wir die gewundenen Stufen erklommen, bemerkte ich, daß William prüfend die Fenster
musterte, die dem Treppenhaus Licht spendeten. Ich war vermutlich schon im Begriff, ebenso scharfsinnig
wie mein Meister zu werden, denn ich sah auf den ersten Blick, daß sie dank ihrer Anlage schwer erreichbar
waren. Auch die Fenster des Refektoriums – die einzigen, die sich im Erdgeschoß des Aedificiums zum
Steilhang öffneten – schienen mir nicht eben leicht erreichbar zu sein, da sich unter ihnen keinerlei Möbel
befanden.
Als wir am oberen Ende der Treppe angelangt waren, traten wir aus dem Ostturm in das Skriptorium,
und im selben Moment entfuhr mir unwillkürlich ein bewundernder Ausruf. Das Obergeschoß war nicht
zweigeteilt wie das untere, und so öffnete sich der Raum vor meinen Augen in seiner ganzen immensen
Weite. Die von robusten Pfeilern gestützten Deckenbögen, rundgewölbt, aber nicht zu hoch (niedriger als
in einer Kirche, aber höher als in jedem Kapitelsaal, den ich jemals gesehen), überspannten einen hellen, von
herrlichem Licht durchfluteten Saal, denn an jeder der vier Hauptseiten öffneten sich drei mächtige Fenster,
während fünf kleinere die fünf Außenmauern aller vier Türme durchbrachen und schließlich acht hohe und
schmale Fenster das Licht aus dem achteckigen Innenhof eintreten ließen.
Die Fülle der Fenster bewirkte, daß der große Saal sich auch zu dieser spätherbstlichen
Nachmittagsstunde noch eines gleichmäßigen, diffusen Lichtes erfreuen durfte. Die Scheiben waren nicht
farbig bemalt wie in Kirchen, vielmehr umspannten die bleiernen Fassungen klare Gläser, durch welche
folglich das Tageslicht in denkbar reinster Form eintreten konnte, um, von keiner menschlichen Kunst
moduliert, seinen hehren Zweck zu erfüllen, nämlich die Arbeit des Lesens und Schreibens aufs trefflichste
zu erhellen. Ich habe in späteren Jahren und andernorts noch manches Skriptorium gesehen, aber keines,
das mit den Bündeln des physischen Lichtes, welches die Umwelt erleuchtet, so wunderbar das im Licht
verkörperte Geistesprinzip erstrahlen ließ, nämlich die claritas, Quelle aller Schönheit und Weisheit,
unabtrennbares Attribut der majestätischen Proportionen des Saales. Dreierlei nämlich wirkt zusammen,
um die wahre Schönheit zu schaffen: erstens die Unversehrtheit oder Vollendung, weswegen uns
unvollendete Dinge häßlich erscheinen, zweitens die maßvolle Proportion oder Harmonie, und drittens
eben die Klarheit oder das Licht, weswegen wir schön nennen, was von klarer Farbe ist. Und da die Vision
des Schönen stets auch das Friedliche in sich enthält und es für unser Gefühl dasselbe ist, ob wir Ruhe finden
im Frieden, im Guten oder im Schönen, fühlte ich mich von einem großen Trost durchdrungen und dachte,
wie angenehm es doch sein mußte, an diesem Ort zu arbeiten.
Ja, damals, in jener Stunde beginnender Dämmerung, erschien mir das Skriptorium wie eine fried- und
freudvolle Werkstatt der Weisheit. In Sankt Gallen sah ich später ein ähnlich wohlproportioniertes
Skriptorium, ebenfalls von der Bibliothek getrennt (in anderen Abteien pflegen die Mönche am selben Ort
zu arbeiten, wo auch die Bücher aufbewahrt werden), aber dieses war noch viel schöner angelegt.
Restauratoren, Kopisten, Rubrikatoren und Forscher saßen jeder an seinem eigenen Tisch, je einer vor jedem
Fenster. Und da es insgesamt vierzig Fenster waren (eine wahrhaft vollendete Zahl, die sich der
Verzehnfachung des Vierecks verdankt, als wären die Zehn Gebote mit den vier Kardinaltugenden
multipliziert worden), hätten vierzig Mönche einhellig nebeneinander arbeiten können, mochten sich auch
in diesem Augenblick nur knapp dreißig im Saal befinden. Severin erklärte uns, daß die im Skriptorium
tätigen Mönche von den Gebeten zur Tertia, Sexta und Nona entbunden waren, damit sie das Tageslicht voll
ausnutzen konnten und ihre Arbeit erst bei Einbruch der Dunkelheit zur Vesper zu unterbrechen brauchten.
Die hellsten Plätze waren den Restauratoren, den erfahrensten Miniaturenmalern und den Kopisten
vorbehalten. Jeder Tisch hatte alles, was man zum Malen und zum Kopieren braucht: Tintenfässer, feine
Federn, die einige Mönche mit winzigen Messerchen schärften, Bimssteine, um das Pergament zu glätten,
und Lineale, um die Zeilenlinien zu ziehen. Neben jedem Schreiber oder auch am oberen Ende der schrägen
Schreibfläche eines jeden Tisches stand ein Lesepult, auf dem der zu kopierende Codex ruhte, festgehalten
durch eine bewegliche Maske, welche die gerade abzuschreibende Zeile einfaßte. Manche hatten auch
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goldene oder andersfarbige Tinten. Andere Mönche sah ich nur lesen und sich Notizen machen in Hefte
oder auf kleine Täfelchen.
Allerdings hatte ich keine Zeit, ihre Arbeit genauer zu beobachten, denn schon eilte der Bibliothekar
herbei, den wir bereits als Malachias von Hildesheim kannten. Er gab sich Mühe, seinem Antlitz einen
Ausdruck des Willkommens zu geben, aber das änderte nichts daran, daß ich angesichts dieser einzigartigen
Physiognomie unwillkürlich erschrak. Seine Gestalt war hoch, und seine Glieder wirkten trotz ihrer
extremen Magerkeit groß und grobknochig, und wie er da in seiner schwarzen Kutte mit langen Schritten
rasch auf uns zukam, hatte er etwas Beunruhigendes, ja Unheimliches. Die Kapuze, die er noch nicht
abgestreift hatte, da er gerade von draußen kam, warf auf sein bleiches Gesicht einen Schatten, der seinen
großen melancholischen Augen etwas Schmerzliches gab. Tiefe Furchen in seinen Zügen kündeten von
vergangenen, einstmals offenbar wilden und nun vom Willen gebändigten Leidenschaften. Wehmut und
Ernst beherrschten sein Antlitz, und seine Augen waren so stechend, daß sie mit einem einzigen Blick tief
ins Herz seines Gegenübers einzudringen und seine geheimsten Gedanken zu lesen vermochten, weshalb
man ihr forschendes Starren kaum ertragen konnte und versucht war, ihm auszuweichen.
Nachdem der Bibliothekar uns begrüßt hatte, führte er uns durch den Saal und stellte uns zahlreiche
Mönche vor. Bei jedem von ihnen nannte er nicht nur den Namen, sondern auch die Art ihrer Tätigkeit, und
bei allen bewunderte ich die Hingabe an ihre Wissenschaft und an das Studium der Worte Gottes. So lernte
ich Venantius von Salvemec kennen, einen Übersetzer aus dem Griechischen und Arabischen sowie großen
Verehrer des Aristoteles, des gewiß größten Gelehrten aller Zeiten. Ferner Benno von Uppsala, einen jungen
skandinavischen Mönch, der sich mit Rhetorik und Grammatik beschäftigte, Berengar von Arundel, den
Adlatus des Bibliothekars, Aymarus von Alessandria, der Bücher kopierte, die der Bibliothek nur leihweise
für ein paar Monate überlassen waren, und schließlich eine Reihe von Miniatoren aus verschiedenen
Ländern, Patrick von Clonmacnois, Rhaban von Toledo, Magnus von Iona, Waldo von Herford . . .
Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden, und nichts ist gewiß erfreulicher als eine Liste, Werkzeug
wunderbarer Hypotyposen. Doch ich muß zum Inhalt unserer Gespräche kommen, denn daraus ergaben
sich zahlreiche nützliche Hinweise zum Verständnis der spürbaren Unruhe, die unter den Mönchen
herrschte, sowie des irgendwie unausgesprochenen Etwas, das ihre Reden belastete.
William begann das Gespräch mit Malachias, indem er die Schönheit und Zweckmäßigkeit des
Skriptoriums lobte und sich erkundigte, wie hier die Arbeit vonstatten gehe, denn er habe, so fügte er
wohlüberlegt hinzu, allerorten von dieser trefflichen Bibliothek gehört und würde gern viele der Bücher
genauer in Augenschein nehmen. Malachias erklärte ihm, wie es bereits der Abt getan hatte, daß der Mönch,
der ein bestimmtes Buch haben wolle, den Bibliothekar darum bitten müsse, und dieser hole es dann aus der
Bibliothek im zweiten Obergeschoß, wenn der Wunsch gerechtfertigt sei und fromm. Auf Williams Frage,
woher man den Titel des Buches erfahren könne, zeigte Malachias ihm einen voluminösen, mit einem
goldenen Kettchen an seinem Tisch befestigten Codex, dessen Seiten von oben bis unten eng mit Listen
bedeckt waren.
William versenkte die Hand in seine Kutte, wo sie vor der Brust einen Beutel bildete, und förderte einen
Gegenstand zutage, den ich bereits früher zuweilen in seinen Händen oder auf seiner Nase gesehen hatte:
eine kleine zweizackige Gabel, die so geformt war, daß sie auf der Nase eines Mannes sitzen konnte (zumal
auf einer so kühn gebogenen Adlernase wie der meines Meisters), wie ein Reiter auf seinem Pferd sitzt oder
ein Vogel auf seiner Stange. Rechts und links an den beiden Zacken der Gabel befanden sich, in genauer
Entsprechung zu den Augen, zwei ovale Metallringe, die zwei dicke mandelförmige Gläser umspannten. Mit
diesen Gläsern vor seinen Augen pflegte William zu lesen, und er sagte, er könne mit ihnen besser sehen,
als es ihm die Natur oder sein fortgeschrittenes Alter gestatte, vor allem wenn das Tageslicht nachzulassen
beginne. Allerdings brauche er das Gerät nicht, um in die Ferne zu sehen (im Gegenteil, da waren seine
Augen sogar besonders scharf), sondern nur, um etwas aus der Nähe zu betrachten, und tatsächlich konnte
er mit diesen Gläsern Manuskripte in winziger Schrift lesen, die zu entziffern selbst mir nicht immer
leichtfiel. Wie er mir einmal erklärte, sei es nämlich so, daß bei vielen Menschen, wenn sie die Mitte ihrer
Lebenszeit überschritten hätten, die Augen leicht ermüdeten und die Pupillen sich nicht mehr so gut
anpassen könnten, selbst wenn ihre Sehkraft immer hervorragend gewesen sei, weshalb leider viele
Gelehrte nach ihrem fünfzigsten Lenz, was das Lesen und Schreiben betreffe, so gut wie gestorben seien.
Und das sei natürlich ein schlimmes Unglück für Männer, die noch viele Jahre lang ihr Bestes an Intelligenz
und Erkenntnis hätten geben können, und deshalb müsse man Gott dafür loben, daß eines Tages jemand
dieses nützliche Instrument erfunden und hergestellt habe – und das zeige wieder einmal, wie gut die Ideen
des Roger Bacon gewesen seien, der bekanntlich gelehrt habe, Ziel und Zweck der Weisheit sei nicht zuletzt
die Verlängerung des menschlichen Lebens.
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Die anderen Mönche betrachteten William mit großer Neugier, wagten es aber nicht, ihm Fragen über
seine Gläser zu stellen. Und so merkte ich, daß auch ihnen, die sich so eifersüchtig und selbstbewußt dem
hehren Umgang mit Büchern verschrieben hatten, dieses wunderbare Gerät nicht bekannt war. Und es
erfüllte mich mit Stolz, einen Meister zu haben, der etwas besaß, was Leuten, die in der ganzen Welt
berühmt waren für ihr Wissen, solchen Eindruck machte.
Mit diesem Gerät auf der Nase beugte sich William nun also über den Codex. Ich tat es ihm nach, und
wir entdeckten die Namen zahlloser Bücher, nie gehörte neben hochberühmten, die sich in dieser Bibliothek
befanden.
»De pentagono Salomonis; Ars loquendi et intelligendi in lingua hebraica; De rebus metallicis von Rüdiger von
Herford; Algebra von Al Kuwarizmi, ins Lateinische übertragen von Robertus Anglicus; die Punica von Silius
Italicus; die Gesta francorum; De laudibus sanctae crucis von Hrabanus Maurus; und Flavii Claudii Giordani de
aetate mundi et hominis reservatis singulis litteris per singulos libros ab A usque ad Z«, las mein kluger Meister.
»Glänzende Werke. Aber in welcher Reihenfolge sind sie hier aufgeführt?« Und er zitierte einen Text, den
ich nicht kannte, der aber sicher dem Bibliothekar geläufig war: »›Habeat Librarius et registrum omnium
librorum ordinatum secundum facultates et auctores, reponatque eos separatim et ordinate cum signaturis per
scripturam applicatis.‹ Wie wißt Ihr, wo ein Buch steht?«
Malachias zeigte auf die kurzen Bemerkungen hinter jedem Titel, und ich las: iii, IV gradus, V in prima
graecorum; ii, V gradus, VII in tertia anglorum und so weiter. Ich begriff, daß die erste Zahl offenbar für die
Position des Buches auf dem Bord oder gradus stand, das seinerseits durch die zweite Zahl bezeichnet wurde,
während die dritte den Schrank angab, ergänzt um Hinweise auf einen Raum oder Flur in der Bibliothek,
und ich wagte die Bitte um genauere Erklärung dieser ergänzenden Distinctiones. Malachias sah mich streng
an. »Vielleicht wißt Ihr nicht oder habt vergessen, daß der Zugang zur Bibliothek nur dem Bibliothekar
gestattet ist. Es genügt also, wenn er allein diese Angaben zu entziffern vermag.«
»Aber sagt mir, nach welcher Reihenfolge sind die Bücher hier aufgeführt?« fragte William noch einmal.
»Nach Sachgebieten doch offenbar nicht.« Eine mögliche Reihenfolge nach Autoren gemäß der
traditionellen Buchstabenfolge im Alphabet erwähnte er gar nicht, da diese sinnreiche Anordnung erst vor
wenigen Jahren in manchen Bibliotheken eingeführt worden ist und damals noch kaum gebräuchlich war.
»Die Ursprünge dieser Bibliothek liegen in der Tiefe der Zeiten«, sagte Malachias würdevoll, »und so sind
die Bücher hier aufgeführt nach der Reihenfolge ihres Erwerbs, ob durch Kauf oder Schenkung, das heißt
nach dem Zeitpunkt ihres Eingangs in unsere Mauern.«
»Schwer zu finden«, bemerkte William.
»Es genügt, daß der Bibliothekar sie kennt und bei jedem Buch weiß, wann es in die Bibliothek
gekommen ist. Die anderen Mönche können sich auf sein Gedächtnis verlassen.« Es klang, als spreche er
nicht von sich selbst, sondern von einer anderen Person; in Wahrheit sprach er wohl von dem Amt, als
dessen Diener und treuer Verwalter er sich begriff, jüngstes Glied einer langen Kette von Vorgängern, die
ihr kostbares Wissen jeweils an ihre Nachfolger weitergereicht hatten.
»Verstehe«, sagte William. »Wenn ich zum Beispiel etwas über das Pentagon Salomonis suchen würde,
ohne bereits zu wissen, was es darüber gibt, so würdet Ihr mir das Buch nennen können, dessen Titel ich
vorhin las, und es mir aus dem Oberstock holen.«
»Gewiß, wenn Ihr wirklich etwas über das Pentagon Salomonis wissen müßtet«, antwortete Malachias.
»Bei diesem Buch würde ich allerdings lieber erst den Rat des Abtes einholen.«
William schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Wie ich erfahren habe, ist kürzlich einer Eurer
Miniaturenmaler . . . verschwunden. Der Abt hat mir viel von seiner Kunst erzählt. Könnte ich wohl die
Handschriften sehen, die er ausgeschmückt hat?«
»Adelmus von Otranto«, antwortete Malachias und sah William mißtrauisch an, »war noch jung und
bemalte daher nur die Ränder der Manuskripte. Er hatte eine sehr lebhafte Phantasie und vermochte aus
Bekanntem Unbekanntes und Überraschendes zu komponieren, wie wenn man Menschenleiber mit
Pferdeköpfen vereint. Aber seht selbst, hier sind seine Bücher. Niemand hat sie bisher angerührt.«
Wir traten an den Tisch, an dem Adelmus gearbeitet hatte, und erblickten einen Stoß reich bemalter
Bögen. Es waren Bögen aus feinstem Vellum, dem König der Pergamente, und der letzte war noch mit
Klammern am Tisch befestigt. Gerade erst mit dem Bimsstein abgerieben, mit Kreide weich gemacht und
mit dem Eisen geglättet, war er nur zur Hälfte mit Schrift bedeckt, doch der Maler hatte bereits begonnen,
die Linien der Randfiguren mit winzigen Nadelstichen vorzuzeichnen. Die anderen Bögen waren indes
schon fertig, und als wir ihrer ansichtig wurden, konnten weder William noch ich einen Ausruf der
Der Name der Rose – Erster Tag
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Bewunderung unterdrücken. Es handelte sich um einen Psalter, an dessen Rändern sich eine für unsere
Sinne verkehrte Welt abzeichnete – als entfaltete sich an den Rändern eines Diskurses, der per definitionem
Diskurs der Wahrheit ist, aufs innigste mit ihm verbunden durch wundersame Rätsel und Anspielungen, ein
lügnerischer Diskurs über ein Universum, das auf dem Kopf steht, so daß darin die Hunde vor den Hasen
fliehen und die Hirsche den Löwen jagen. Kleine Köpfchen mit Vogelfußen, Tiere mit Menschenhänden auf
dem Rücken, haarige Häupter, aus denen Füße wuchsen, zebragestreifte Drachen, Vierbeiner mit
Schlangenköpfen, die Hälse verschlungen zu tausend unentwirrbaren Knoten, Affen mit Bockshörnern,
Sirenen mit Vogelleibern und Libellenflügeln auf dem Rücken, Menschen ohne Arme, denen andere
Menschengestalten buckelförmig aus den Schultern wuchsen, Wesen mit Mäulern voller Zähne am Bauch,
Menschenleiber mit Pferdeköpfen und Pferdeleiber mit Menschenbeinen, Fische mit Vogelschwingen und
Vögel mit Fischschwänzen, Mißwüchsige mit einem Leib und zwei Köpfen oder mit einem Kopf und zwei
Leibern, Kühe mit Hahnenschwänzen und Schmetterlingsflügeln, Frauen mit Fischschuppen auf dem Kopf,
zweiköpfige Chimären, verschlungen mit eidechsenköpfigen Wasserjungfern, Zentauren, Lindwürmer,
Elefanten, Mantikoren mit drei Zahnreihen im Maul, einbeinige Scinopoden, die sich auf Baumästen
wanden, Greife mit Schwänzen in Form von gerüsteten Bogenschützen, teuflische Kreaturen mit endlosen
Hälsen und ähnliche Monster in großer Zahl. Auf dem unteren Rand einer Seite formten sich Gruppen von
menschenförmigen Tieren oder tierförmigen Zwergen zu Szenen des ländlichen Lebens: Pflügende, Säende,
Erntende, Beerensammler und Spinnerinnen waren gemalt mit einer Lebendigkeit, daß man meinen
konnte, sie bewegten sich wirklich; daneben erstürmten armbrustbewehrte Füchse und Marder eine Stadt,
auf deren Zinnen und Türmen Affen saßen. Hier krümmte sich ein großer Anfangsbuchstabe zu einem L
und gebar aus seinem unteren Teil einen Drachen, dort kroch aus einem großen V, das den Anfang des
Wortes Verba bildete, wie als natürliche Fortsetzung seines Rumpfes eine Schlange, aus welcher andere
Schlangen hervorgingen, die sich in tausend Windungen zu Trauben und Dolden formten.
Neben dem Psalter lag, gleichfalls offenbar erst vor kurzem fertiggestellt, ein zierliches goldenes
Büchlein, so unglaublich klein, daß man es in der Handfläche hätte halten können. Die Miniaturen an den
Seiten der winzigen Schrift waren auf den ersten Blick kaum zu erkennen und verlangten Betrachtung aus
nächster Nähe, um ihre ganze Schönheit zu offenbaren (und staunend fragte man sich, mit welchem
übermenschlichen Werkzeug der Künstler sie gemalt haben mochte, um auf so engem Raum so lebendige
Wirkungen zu erzielen). Von oben bis unten waren die Ränder bedeckt mit winzigen Figuren, die sich,
gleichsam wie in natürlicher Expansion, aus den Enden und Abschlußbögen der kunstvoll geformten Lettern
ergaben: fischschwänzige Sirenen, Chimären, fliehende Hirsche, armlose menschliche Torsi, die Würmern
gleich aus den Enden der Verse wuchsen. An einer Stelle sah ich, gleichsam als Fortsetzung und Kommentar
eines dreifach über drei Zeilen wiederholten Sanctus, Sanctus, Sanctus, drei Tierleiber mit Menschenköpfen,
von denen zwei sich beugten, der eine nach oben, der andere nach unten, um sich in einem Kuß zu vereinen,
den als schamlos zu definieren man nicht gezögert hätte, wäre man nicht überzeugt gewesen, daß die
Existenz dieser Darstellung an diesem Ort ohne Zweifel gerechtfertigt war durch eine tiefe, wenn auch nicht
ohne weiteres erkennbare spirituelle Bedeutung.
Ich folgte den Bildern in einer Mischung aus stummer Bewunderung und Ergötzen, denn unwillkürlich
reizten mich diese Figuren zum Lachen, obwohl sie heilige Texte kommentierten. Auch William betrachtete
sie mit einem Lächeln und sagte heiter: »Babewyn nennt man sie auf meinen Inseln.«
»Babouins heißen sie in Gallien«, nickte Malachias, »und in der Tat hat Adelmus seine Kunst in Eurer
Heimat erlernt, obwohl er dann später auch in Paris studierte. Paviane, Fratzengesichter, afrikanische Affen
– Figuren einer verkehrten Welt, in welcher die Häuser sich auf Nadelspitzen erheben und die Erde über dem
Himmel ist.«
Mir kamen einige Verse in den Sinn, die ich zu Hause in meinem heimatlichen Idiom gehört hatte, und
ich konnte mich nicht enthalten, sie zu zitieren:
Aller wunder si geswigen,
das erde himel hât überstigen,
daz sult ir vür ein wunder wigen.
Malachias stimmte ein und fuhr fort:
Erd ob un himel unter,
das sult ir hân besunder
vür aller wunder ein wunder.
Der Name der Rose – Erster Tag
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»Bravo, Adson«, lobte der Bibliothekar, »in der Tat sprechen diese Bilder von jener Region, in die man auf
dem Rücken einer Blaugans gelangt, um dort Sperber zu finden, die Fische fangen in einem Bach, und Bären,
die Falken am Himmel jagen, und Krebse, die mit den Tauben fliegen, und drei Riesen, die gefangen in einer
Falle sitzen und von einem Hahn gebissen werden.«
Ein feines Lächeln erhellte seine Züge, worauf die anderen Mönche, die unserem Gespräch mit einer
gewissen Scheu gefolgt waren, wie erlöst in ein allgemeines Gelächter ausbrachen, als hätten sie nur die
Zustimmung des Bibliothekars abgewartet. Dieser freilich verdüsterte sich sofort wieder, doch die anderen
lachten nun weiter im Chor, lobten die Kunst des armen Adelmus und zeigten einander die
unwahrscheinlichsten Gestalten. Und während sie alle laut durcheinanderlachten, ertönte plötzlich in
unserem Rücken eine sehr ernste und strenge Stimme:
»Verba vana aut risui apta non loqui!«
Wir drehten uns um. Der da gesprochen hatte, war ein greiser Mönch, gebeugt von der Last seiner Jahre
und weiß wie der Schnee, nicht nur an Kopf und Händen, sondern auch im Gesicht und sogar in den Augen.
Offensichtlich ein Blinder. Seine Stimme hatte majestätisch geklungen, und seine Glieder schienen mir trotz
seines hohen Alters noch kraftvoll zu sein. Er fixierte uns streng, als könnte er uns sehen, und auch in den
folgenden Tagen sah ich ihn stets sich bewegen und sprechen, als wäre er noch im Besitz seines
Augenlichtes. Doch der Ton seiner Stimme war der eines Mannes, der nur das innere Auge besitzt, will
sagen die Gabe der Prophetie.
»Der ehrwürdige und weise Mönch, der da vor Euch steht«, sagte Malachias zu William und wies auf den
Neuankömmling, »ist Bruder Jorge von Burgos. Älter als jeder andere in diesem Kloster, ausgenommen
Alinardus von Grottaferrata, ist er es, dem hier die meisten Brüder ihre Sündenlast anvertrauen im
Geheimnis der Beichte.« Und zu dem Greis gewandt sagte er: »Vor Euch steht Bruder William von
Baskerville, er ist bei uns zu Gast.«
»Ich hoffe, Euch nicht erzürnt zu haben mit meinen Worten«, sagte der Alte kühl. »Ich hörte Personen
über lachhafte Dinge lachen und erinnerte sie an einen Grundsatz unserer Regel. Denn wie der Psalmist
sagt: Wenn der Mönch sich der guten Reden enthalten muß aufgrund des Schweigegebotes, so hat er erst
recht die üblen Reden zu meiden. Und wie es üble Reden gibt, gibt es auch üble Bilder. Und das sind solche,
die Lügen verbreiten über die Formen der Schöpfung, indem sie die Welt verkehrtherum darstellen, als das
Gegenteil dessen, was sie ist und sein muß und bleiben wird von Säkulum zu Säkulum bis ans Ende der
Zeiten . . . Doch Ihr kommt ja aus einem anderen Orden, in welchem, wie mir berichtet wurde, selbst noch
die unangebrachteste Heiterkeit mit Nachsicht betrachtet wird.« Die letzten Worte waren eine Anspielung
auf die unter den Benediktinern verbreiteten Ansichten über die Grillen des heiligen Franz von Assisi – und
vielleicht auch ein wenig auf die Grillen, die man den Fratizellen und Spiritualen aller Art, den jüngsten und
beunruhigendsten Sprößlingen des Franziskanerordens, zu unterstellen pflegte. Doch Bruder William tat so,
als habe er die Anzüglichkeit überhört.
»Die Bilder an den Rändern der Manuskripte reizen uns häufig zum Lachen, aber sie tun es nur zu
erbaulichen Zwecken«, erwiderte er. »Wie man in Predigten vor dem Volk oft Exempla. einführen muß, und
nicht selten ergötzliche, um die Phantasie der frommen Zuhörer anzuregen, so muß auch die Rede der Bilder
sich dieser Possen bedienen. Für jede Tugend und jede Sünde gibt es ein Beispiel in der Welt der Tiere, und
die Tiere spiegeln die Welt der Menschen.«
»Oh, gewiß doch!« höhnte der Alte, ohne die Miene zu verziehen. »Jedes Bildnis ist gut, um die
Menschen zur Tugend anzuhalten, damit am Ende die Krone der Schöpfung, auf den Kopf gestellt und mit
den Beinen nach oben, zum Anlaß groben Gelächters wird! So offenbart sich das Wort des Herrn im Esel,
der auf der Leier spielt, im Tölpel, der mit dem Schilde pflügt, im Ochsen, der sich von allein vor den Pflug
spannt, in Flüssen, die den Berg hinauffließen, in Meeren, die sich entzünden, im Wolf, der zum frommen
Einsiedler wird! Jagt die Hasen mit Ochsen, laßt euch die Grammatik von den Spatzen beibringen, die
Hunde mögen die Flöhe beißen, die Blinden mögen die Stummen betrachten, und die Stummen schreien
nach Brot! Die Ameisen mögen Kälber gebären, gebratene Hühner fliegen, die Fladenkuchen wachsen auf
Dächern, die Papageien halten Rhetorikkurse, die Hennen bespringen die Hähne, spannt die Karren vor die
Ochsen, laßt die Hunde in Betten schlafen und laßt uns alle hinfort auf den Köpfen gehen! Was sollen all
diese Possen? Eine verkehrte Welt, erfunden als Gegenteil der von Gott geschaffenen unter dem Vorwand,
Gottes Gebote zu lehren!«
»Aber der große Areopagit hat gelehrt«, gab William sanft zu bedenken, »daß Gott nur durch die
allerverzerrtesten Dinge benannt werden kann. Und Hugo von Sankt Viktor hat uns daran erinnert, als er
sagte: Je mehr die Ähnlichkeit sich unähnlich macht, desto mehr enthüllt sich die Wahrheit unter dem
Der Name der Rose – Erster Tag
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Schleier erschreckender oder schamloser Figuren und desto weniger heftet sich die Phantasie ans
fleischliche Verlangen, sondern sieht sich vielmehr gezwungen, die Geheimnisse aufzudecken, die sich
unter der Schändlichkeit der Bilder verbergen . . .«
»Ich kenne das Argument! Und voller Scham muß ich zugeben, daß es das Hauptargument unseres
Ordens war, als die cluniazensischen Äbte im Streit mit den Zisterziensern lagen. Aber Sankt Bernhard hatte
recht: Wer ständig Monster darstellt und Mißbildungen der Natur, um die Dinge Gottes zu offenbaren per
speculum et in aenigmate, der gewinnt allmählich Gefallen an den Scheußlichkeiten, die er ersinnt, und ergötzt
sich an ihnen und sieht am Ende nichts anderes mehr als sie! Schaut nur, ihr, die ihr noch euer Augenlicht
habt, auf die Kapitelle in eurem Kreuzgang«, und er deutete mit erhobener Hand aus dem Fenster hinüber
zur Kirche. »Was bedeuten unter den Augen der meditierenden Mönche jene lächerlichen Monstrositäten,
jene deformierte Formenpracht, jene formenprächtigen Deformationen? Jene schmutzigen Affen? Jene
Löwen, jene Zentauren, jene menschenähnlichen Wesen, die den Mund am Bauch haben und nur einen Fuß
und Segelohren? Jene gescheckten Tiger, jene kämpfenden Krieger, jene munter in ihre Hörner stoßenden
Jäger? Und jene vielen Leiber an einem einzigen Kopf und jene vielen Köpfe an einem einzigen Leib?
Vierbeiner mit Schlangenhäuptern, Fische mit Vierbeinerköpfen, da ein Tier, das vorn ein Pferd zu sein
scheint und hinten ein Ziegenbock, dort ein pferdeähnliches Wesen mit Hörnern, und so immer weiter!
Heutzutage ist es für einen Mönch ergötzlicher, die steinernen Bilder zu lesen anstatt die gelehrten Schriften,
und die Werke von Menschenhand zu bewundern anstatt fromm zu meditieren über die Gesetze Gottes!
Schande, Schande über die Gier eurer Augen und euer Gelächter!«
Schweratmend hielt der Greis inne. Und ich bewunderte sein genaues Gedächtnis, hatte er doch, obwohl
vielleicht schon seit Jahren erblindet, noch sämtliche Bilder im Kopf, deren Schändlichkeit er so lebhaft
schilderte. Ja, mir kam der Verdacht, daß diese Bilder ihn seinerzeit sehr erregt haben mußten, als er sie sah,
wenn er sie immer noch mit solcher Leidenschaft zu beschreiben vermochte. Doch es ging mir auch später
in meinem Leben noch häufig so, daß ich die verführerischsten Schilderungen ausgerechnet in Texten jener
höchst tugendsamen und standhaften Männer fand, die den Zauber ihrer verderblichen Wirkung am
allerheftigsten brandmarkten. Was nur bezeugt, daß diese Männer von so großem Eifer für das Zeugnis der
Wahrheit erfüllt sind, daß sie sich in ihrer Liebe zu Gott nicht scheuen, das Böse mit allen seinen
verführerischen Reizen auszustatten, um die Menschen besser ins Bild zu setzen über die teuflische Art und
Weise, wie es sie verzaubert. Und tatsächlich riefen die Worte des grimmen Jorge in mir eine große Lust
hervor, die Tiger und Affen im Kreuzgang, den ich noch nicht bewundert hatte, zu betrachten. Aber Jorge
unterbrach den Lauf meiner Gedanken, indem er von neuem zu sprechen anhob, diesmal etwas ruhiger.
»Unser Herr Jesus Christus bedurfte nicht solcher Narreteien, um uns den rechten Weg zu zeigen. Nichts
in seinen Gleichnissen reizt uns zum Lachen oder zum Schaudern. Adelmus jedoch, den ihr heute als Toten
beklagt, hatte Gefallen an den Monstern, die er ersann, er genoß ihre Ungeheuerlichkeiten so sehr, daß er
die letzten Dinge, deren materielle Figur sie doch sein sollten, aus den Augen verlor. Und er durchlief alle,
ich sage alle«, und seine Stimme wurde aufs neue ernst und drohend, »alle Wege der Schändlichkeit! Und
dafür hat ihn Gott zu strafen gewußt.«
Ein lastendes Schweigen legte sich auf die Runde. Es war Venantius von Salvemec, der es zu
durchbrechen wagte.
»Ehrwürdiger Jorge«, sagte er, »Eure Tugend macht Euch ungerecht. Zwei Tage bevor Adelmus starb,
wart Ihr Zeuge eines gelehrten Disputes, der hier im Skriptorium stattfand. Adelmus legte großen Wert
darauf, daß seine Kunst, trotz Darstellung wunderlicher und phantastischer Dinge, dem Ruhme Gottes
diene als Mittel zur Erkenntnis der himmlischen Dinge. Bruder William hat vorhin die Lehre des
Areopagiten über die Erkenntnis durch die Verzerrung erwähnt. Adelmus zitierte eine andere sehr große
Autorität, nämlich den Doktor von Aquin, der gesagt hat, daß es richtig und gut sei, wenn die göttlichen
Dinge mehr in Figuren gemeiner Körper dargestellt würden als in Figuren edler Körper. Erstens, weil die
menschliche Seele dann leichter vom Irrtum befreit werde, denn so sei es evident, daß gewisse Eigenschaften
nicht den göttlichen Dingen zugeschrieben werden können, was zweifelhaft wäre, wenn diese mit Hilfe
edler irdischer Körper dargestellt würden. Zweitens, weil besagte Darstellungsweise angemessener sei für
die Kenntnis Gottes, die wir auf Erden haben, denn er offenbare sich mehr in dem, was er nicht ist, als in
dem, was er ist, weshalb uns die Ähnlichkeiten derjenigen Dinge, die sich am weitesten von Gott entfernen,
zu einer exakteren Meinung über ihn führten, da wir nun wüßten, daß er über allem steht, was wir sagen
und denken. Und drittens schließlich, weil durch diese Darstellungsweise die Dinge Gottes besser vor denen
verborgen würden, die ihrer nicht würdig sind. Kurzum, es ging in jenem Disput darum, ob und wie man die
Wahrheit durch überraschende Ausdrücke, treffende oder rätselhafte, zu erkennen vermag. Und ich wies
darauf hin, daß sich auch im Werk des großen Aristoteles sehr klare Worte zu diesem Thema finden . . .«
Der Name der Rose – Erster Tag
56
»Ich erinnere mich nicht«, unterbrach ihn Jorge schroff. »Ich bin sehr alt. Ich erinnere mich nicht.
Vielleicht bin ich allzu streng gewesen. Es ist spät geworden, ich muß gehen.«
»Ich wundere mich, daß Ihr Euch nicht erinnert«, beharrte Venantius. »Es war ein gelehrter und schöner
Disput, in den auch Benno und Berengar eingriffen. Es ging um die Frage, ob die Metaphern und Rätsel und
Wortspiele, die von den Dichtern anscheinend zum bloßen Vergnügen ersonnen werden, nicht zu neuen
und überraschenden Spekulationen über die Dinge anregen können, und ich sagte, daß auch dies eine
Tugend sei, die man vom Weisen verlange . . . Und auch Malachias . . .«
»Wenn der ehrwürdige Jorge sich nicht erinnern kann, so respektiere gefälligst sein Alter und die
Ermüdung seines Geistes . . . der ansonsten sehr lebhaft ist«, warf einer der Mönche ein. Er hatte voller
Erregung gesprochen, zumindest am Anfang, denn als er merkte, daß er, um zur Achtung vor dem Alter
aufzurufen, de facto auf eine der Schwächen des Alters verwies, hatte er den Impetus seiner Worte rasch
gezügelt, so daß sein Einwurf schließlich mit einer fast hingehauchten Entschuldigung endete. Es war
Berengar von Arundel, der Adlatus des Bibliothekars, der so gesprochen hatte. Ein junger Mönch mit
bleichem Gesicht, bei dessen Anblick mir unwillkürlich in den Sinn kam, was Ubertin von dem toten
Adelmus gesagt hatte: Seine Augen glichen den Augen eines lüsternen Weibes. Eingeschüchtert von den
Blicken der Umstehenden, die sich alle ihm zugewandt hatten, drehte und wand er die Hände wie einer, der
eine innere Spannung zu unterdrücken versucht.
Einzigartig war die Reaktion des Venantius. Er fixierte Berengar streng, so daß dieser die Augen
niederschlug, und sagte: »Schon recht, Bruder. Wenn das Gedächtnis ein Geschenk Gottes ist, so kann auch
die Fähigkeit zu vergessen eine kostbare Gabe sein, die Achtung verdient. Aber ich achte sie nur bei dem
ehrwürdigen Mitbruder, zu dem ich soeben sprach. Von dir hätte ich eine lebhaftere Erinnerung an die
Dinge erwartet, die damals passiert sind, als wir hier standen, zusammen mit einem deiner liebsten Freunde
. . .«
Ich könnte nicht sagen, ob Venantius den Worten »deiner liebsten« besonderen Nachdruck gegeben
hatte. Tatsache ist jedoch, daß sich plötzlich eine allgemeine Verlegenheit über die Runde senkte. Jeder
blickte in eine andere Richtung, und niemand schaute auf Berengar, der heftig errötete. Schließlich griff
Malachias ein und sagte mit Entschiedenheit: »Kommt, Bruder William, ich werde Euch noch einige andere
interessante Bücher zeigen.«
Die Gruppe löste sich auf. Ich konnte gerade noch sehen, wie Berengar dem Venantius einen grollenden
Blick zuwarf, den dieser mit stummer Herausforderung zurückgab. Zugleich aber sah ich, daß der alte Jorge
sich zurückziehen wollte, und bewegt von einem spontanen Impuls, ihm meine Verehrung zu bezeugen,
neigte ich mich, um seine Hand zu küssen. Der Alte nahm meinen Kuß entgegen, legte mir die Hand auf
den Kopf und fragte, wer ich sei. Als ich ihm meinen Namen nannte, erhellte sich sein Gesicht.
»Du trägst einen großen und schönen Namen«, sagte er. »Weißt du, wer Adson von Montier-en-Der
war?« Ich gestand, daß ich es nicht wußte. Woraufhin Jorge erklärte: »Er war der Autor eines großen und
erschütternden Buches, des Libellus de Antichristo, in welchem er Dinge sah, die eines Tages geschehen
werden. Doch er fand kaum Gehör . . .«
»Das Buch wurde vor der Jahrtausendwende geschrieben«, sagte William, »und seine Voraussagen
haben sich nicht erfüllt . . .«
»Nur für jene nicht, die keine Augen haben zu sehen«, sagte der Blinde. »Die Wege des Antichrist sind
langwierig und verschlungen. Er kommt, wenn wir ihn am wenigsten erwarten – und nicht, weil die
Berechnungen falsch wären, die der Apostel uns nahegelegt, sondern weil wir nicht gelernt haben, sie zu
deuten.« Und mit donnernder Stimme rief er, das Antlitz zum Saale gewandt, so daß die Deckengewölbe
erbebten: »Er ist schon im Kommen! Vergeudet nicht eure letzten Tage mit Lachen über die albernen kleinen
Monster mit scheckigem Fell und gewundenen Schwänzen! Nutzet die letzten sieben Tage!«
Der Name der Rose – Erster Tag
57
ERSTER TAG
VESPER
Worin der Rest der Abtei besichtigt wird und William erste Schlußfolgerungen über den Tod des Adelmus zieht sowie
mit dem Bruder Glaser spricht, erst über Lesegläser und dann über die Hirngespinste der allzu Lesebegierigen.
In diesem Augenblick läutete es zur Vesper, und die Mönche schickten sich an, ihren Arbeitsplatz zu
verlassen. Malachias bedeutete uns, daß auch wir nun zu gehen hätten; er werde mit seinem Adlatus noch
bleiben, um aufzuräumen und, wie er sich ausdrückte, die Bibliothek für die Nacht herzurichten. William
fragte ihn, ob er danach die Türen verschließen werde.
»Es gibt keine Türen«, erklärte der Bibliothekar, »die den Zugang zum Skriptorium von der Küche und
vom Refektorium versperren, ebensowenig wie den vom Skriptorium zur Bibliothek. Das Verbot des Abtes
muß stärker sein als jedes Schloß. Die Mönche haben Küche und Refektorium bis Komplet zu verlassen, und
zu dieser Stunde verschließe ich eigenhändig die beiden unteren Pforten, damit keine Fremden und keine
Tiere, für die das Verbot keine Wirkung hat, ins Aedificium gelangen. Danach bleibt das Gebäude leer.«
Wir gingen hinunter. Während die Mönche sich in die Kirche begaben, entschied William, daß der Herr
uns gewiß vergeben werde, wenn wir für diesmal nicht am Vespergottesdienst teilnähmen (der Herr hatte
uns in den folgenden Tagen noch viel zu vergeben!), und schlug mir einen kleinen Rundgang vor, um uns
mit dem Gelände besser vertraut zu machen.
Wir gingen durch die Küche hinaus und schritten über den Friedhof. Einige Gräber waren sichtlich
jüngeren Datums, andere trugen die Spuren der Zeit und kündeten von den irdischen Tagen der Mönche,
die in den vergangenen Jahrhunderten hier gelebt hatten. Namen standen allerdings nicht auf den Gräbern,
nur schlichte steinerne Kreuze.
Das Wetter verschlechterte sich. Ein kalter Wind war aufgekommen, und der Himmel hatte sich bezogen.
Im Westen hinter den Gärten erriet man eine untergehende Sonne, und im Osten war es schon fast dunkel.
Dorthin wandten wir unsere Schritte, gingen am Chor der Kirche vorbei und erreichten den Hinterhof, in
den wir bereits am Nachmittag einen kurzen Blick hatten werfen können. Vor unseren Augen lagen die
Ställe, im Norden fast an die Umfassungsmauer gelehnt, wo sie an den Sockel des Aedificiums stieß und
einige Männer damit beschäftigt waren, den Bottich mit dem frischen Schweineblut abzudecken. Wir
bemerkten, daß die Mauer an einer Stelle hinter dem Schweinestall etwas niedriger war, so daß man
hinübersehen konnte. Als wir uns über die Brüstung beugten, sahen wir auf dem steil abfallenden Hang
darunter allerlei Scherben, die der Schnee nicht ganz zu bedecken vermochte. Offenbar handelte es sich um
Teile des Abfalls, der hier hinausgekippt wurde und sich den Berg hinunter ergoß bis zu jenem Seitenpfad,
in den der entsprungene Brunellus sich heute morgen geflüchtet hatte. Ich sage ergoß, denn es handelte sich
um einen breiten Strom von stinkendem Müll, dessen Geruch bis zu uns heraufdrang. Vermutlich pflegten
die Bauern sich unten zu holen, was sie zum Düngen ihrer Felder gebrauchen konnten. Doch mit den
Ausscheidungen der Tiere und Menschen vermischten sich andere Abfälle, festere Gegenstände, der ganze
Auswurf, den die Abtei tagtäglich absonderte, um sich rein zu halten in ihrer Beziehung zum Gipfel des
Berges und zum Himmel.
Wir wandten uns ab und gingen weiter. Unser Weg führte uns den Hof hinunter, vorbei an den Ställen
der Pferde, die gerade zur Futterraufe geführt wurden, und an den übrigen Stallungen, die sich längs der
Mauer aneinanderreihten, während sich gegenüber, also zu unserer Rechten, an den Chor der Kirche
gelehnt, das Dormitorium erstreckte, gefolgt von einem flachen Latrinenbau. Am unteren Ende des Hofes,
wo die Mauer nach Westen abbog, lag im Winkel die Schmiede. Die letzten Handwerker sammelten gerade
ihre Werkzeuge ein und löschten die Esse, um sich zum Vespergottesdienst zu begeben. William trat näher
und schaute neugierig in einen Seitenraum, der vom Rest der Werkstatt abgeteilt war und worin wir einen
Mönch seine Gerätschaften ordnen sahen. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag eine prächtige
Sammlung farbiger kleiner Gläser, größere Scheiben lehnten an der Wand. Ein noch unvollendeter
Reliquienschrein, von dem bisher nur das silberne Gehäuse existierte, stand vor dem Mönch, der
offensichtlich damit beschäftigt war, Gläser und kostbare Steine daran zu befestigen, die er mit Hilfe seiner
Instrumente zur Größe von Gemmen reduziert hatte.
Der Name der Rose – Erster Tag
58
Wir machten Bekanntschaft mit Bruder Nicolas von Morimond, dem Glasermeister der Abtei. Er erklärte
uns freundlich, daß im hinteren Teil der Werkstatt auch Glas geblasen werde, während vorn, wo wir die
Handwerker aufräumen sahen, die Scheiben in bleierne Fassungen eingesetzt würden, um Fenster daraus
zu machen. Allerdings, so fugte er traurig hinzu, sei das große Werk der Glaskunst, das der Kirche und dem
Aedificium ihren Glanz verleihe, bereits vor mindestens zweihundert Jahren vollendet worden, und heute
beschränke man sich auf kleinere Arbeiten sowie auf Reparaturen der im Laufe der Zeit entstandenen
Schäden.
»Und glaubt mir, das ist sehr mühsam«, versicherte er, »denn es gelingt uns nicht mehr, die Farben von
einst zu finden, besonders das Blau, das ihr noch im Chor bewundern könnt und dessen Klarheit so herrlich
ist, daß es die Kirche bei hohem Sonnenstand mit einem geradezu paradiesischem Licht erfüllt. Die Fenster
im Westteil der Kirche, die wir erst vor kurzem erneuern mußten, sind längst nicht so gut geworden. Es hat
keinen Zweck mehr«, seufzte er traurig, »wir haben nicht mehr das Können der Alten, die Zeit der Riesen
von einst ist vorbei!«
»Ja, wir sind Zwerge«, nickte William, »aber Zwerge, die auf den Schultern der Riesen von einst sitzen,
und so können wir trotz unserer Kleinheit manchmal weiter sehen als sie.«
»Was, sag mir, was können wir besser als sie?« rief Nicolas aus. »Wenn du hinuntersteigst in die Krypta
der Kirche, wo der Klosterschatz aufbewahrt wird, findest du dort Reliquienschreine von so unendlich feiner
Machart, daß dieses elende Ding hier, das ich erbärmlich zusammenbastle« – mit einer verächtlichen
Handbewegung zeigte er auf sein Werkstück – »dagegen wie plumper Hohn erscheint!«
»Nirgendwo steht geschrieben, daß fähige Glasermeister immer nur Kirchenfenster und
Reliquienschreine herstellen müssen, wenn die Meister von einst so treffliche und gewiß auch noch für
Jahrhunderte dauerhafte zu machen verstanden. Sonst würde die Welt bald voller Reliquienschreine sein,
und das in einer Zeit, da die Heiligen, aus denen man Reliquien gewinnt, so rar geworden sind«, lächelte
William tröstend. »Auch braucht man nicht immer nur Fenster zu reparieren. Ich habe in anderen Ländern
Dinge aus Glas gesehen, die an eine Welt von morgen denken lassen, in welcher das Glas nicht nur im
Dienst der Verehrung Gottes und seiner Kirche stehen wird, sondern auch im Dienst der Menschen, um
ihnen zu helfen, ihre Schwächen zu überwinden. Ich möchte dir gern ein Werk unserer Tage zeigen, von
dem ich mich glücklich schätze, ein überaus nützliches Exemplar zu besitzen.« Mit diesen Worten griff
William in seine Kutte und zog zur Verblüffung unseres wackeren Meisters seine Augengläser hervor.
Nicolas nahm das Gerät, das William ihm reichte, mit großer Neugier in beide Hände. »Oculi de vitro cum
capsula!« rief er bewundernd aus. »Ich habe davon schon gehört. Ein gewisser Fra Giordano, den ich früher
einmal in Pisa kannte, sagte mir damals, sie seien vor etwa zwanzig Jahren erfunden worden. Aber das ist
mehr als zwanzig Jahre her.«
»Ich glaube, daß die Erfindung viel älter ist«, sagte William. »Aber die Herstellung ist sehr schwierig und
verlangt erfahrene Hände. Sie kostet Zeit und Arbeit. Vor zehn Jahren wurde in Bologna ein Paar dieser vitrei
ab oculis ad legendum für sechs Silbergroschen verkauft. Ich hatte damals bereits ein Paar, das mir ein großer
Meister, Salvino degli Armati, vor über zehn Jahren geschenkt hatte, und ich habe diese kostbaren Gläser
während der ganzen Zeit so sorgsam gehütet, als wären sie – was sie inzwischen tatsächlich geworden sind
– ein Teil meines Körpers.«
»Ich hoffe, du läßt sie mich irgendwann dieser Tage einmal genauer untersuchen. Es würde mir nicht
mißfallen, ähnliche herzustellen«, sagte Nicolas aufgeregt.
»Gewiß«, erwiderte William. »Aber bedenke, daß die Form und Dicke der Linsen verschieden sein muß,
je nachdem, an welches Auge sie sich anpassen sollen. Man muß eine ganze Reihe von Linsen direkt am
Patienten ausprobieren, bevor man die richtigen für ihn gefunden hat.«
»Wahrlich ein Wunder, ein echtes Wunder!« staunte Nicolas, immer noch ganz ergriffen. »Und doch
werden viele, wenn sie das sehen, von Hexerei und Teufelswerk sprechen . . .«
»Sicher kann man bei diesen Dingen auch von Magie sprechen«, gab William zu. »Doch es gibt zwei
Arten von Magie. Die eine ist Teufelswerk und zielt darauf ab, die Menschen durch Machenschaften, von
denen zu sprechen sich nicht geziemt, zu zerstören. Die andere aber ist Gottes Werk, und sie liegt immer
dann vor, wenn die göttliche Weisheit sich in der menschlichen Wissenschaft ausdrückt mit dem Ziel, die
Natur zu verändern und das Leben der Menschen zu verlängern. Dies ist zweifellos eine heilige Magie, der
die Wissenschaftler sich mehr und mehr zuwenden sollten. Nicht nur um Neues zu entdecken, sondern auch
um die vielen Geheimnisse der Natur wieder freizulegen, die Gottes Weisheit bereits den Juden und
Griechen und anderen antiken Völkern offenbart hatte und die Gott auch heute noch manchen Ungläubigen
offenbart (du glaubst gar nicht, wie viele Wunderdinge der Optik oder der Wissenschaft vom Sehen sich in
Der Name der Rose – Erster Tag
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den Schriften der Ungläubigen finden!). All diese Kenntnisse muß eine christliche Wissenschaft sich wieder
aneignen und sich gewissermaßen zurückholen von den Heiden und Ungläubigen tamquam ab iniustis
possessoribus.«
»Aber warum lassen dann diejenigen«, fragte Nicolas interessiert, »die bereits im Besitz dieser
Wissenschaft sind, nicht das ganze Gottesvolk an ihr teilhaben?«
»Weil nicht das ganze Gottesvolk reif ist für so viele Geheimnisse«, antwortete mein Meister. »Und es ist
ja auch oft schon geschehen, daß die Inhaber dieser Wissenschaft mit dämonischen Magiern verwechselt
wurden, mit Leuten, die sich dem Teufel verschrieben hatten und nun mit ihrem Leben bezahlen mußten
für ihren Wunsch, die anderen teilhaben zu lassen an ihrem Wissensschatz. Ich selber mußte mich in meiner
früheren Tätigkeit bei Prozessen, bei denen es um den Verdacht des Umgangs mit dem Dämon ging, oft
sorgsam vor dem Gebrauch dieser Linsen hüten und mir die Akten von Sekretären vorlesen lassen, um nicht
in einer Zeit, in der die Präsenz des Teufels so nahe schien, daß alle schon sozusagen den Schwefel rochen,
der Komplizenschaft mit dem Angeklagten verdächtigt zu werden. Im übrigen hat schon der große Roger
Bacon zu Recht darauf hingewiesen, daß nicht alle Geheimnisse der Wissenschaft in alle Hände gelangen
dürfen, da einige sie für üble Zwecke mißbrauchen könnten. Oft muß der Wissende Bücher als magisch
ausgeben, die gar nicht magisch sind, sondern durchaus von guter Wissenschaft, um sie vor indiskreten
Augen zu schützen.«
»Dann fürchtest du also, daß die Laien schlechten Gebrauch von diesen Geheimnissen machen
könnten?« wollte Nicolas wissen.
»Bei den Laien fürchte ich nur, daß sie sich von ihnen erschrecken lassen und sie mit jenem Teufelswerk
verwechseln, von dem unsere Prediger allzuoft sprechen. Stell dir vor, ich habe sehr tüchtige Ärzte gekannt,
die hervorragende Medizinen zu mischen wußten, mit denen sie schlimme Krankheiten unverzüglich zu
heilen vermochten. Aber den Laien verabreichten sie ihre Salben und Säfte nur unter Rezitation von heiligen
Worten und Sprüchen, die wie Gebete klangen. Nicht weil diese Sprüche irgendeine heilende Kraft gehabt
hätten, sondern damit die Patienten glaubten, während sie das Zeug schluckten oder sich damit einreiben
ließen, daß die Heilung durch die Gebete käme, so daß sie gesund wurden, ohne allzusehr auf die
Medikamente zu achten. Außerdem hat der Körper, wenn die Seele auf rechte Weise zum Vertrauen in die
fromme Formel gebracht wird, mehr Aufnahmebereitschaft für die heilende Wirkung der Medikamente. Oft
jedoch müssen die Schätze der Wissenschaft nicht so sehr vor den Laien verborgen werden als vielmehr vor
den anderen Wissenschaftlern. Heutzutage werden Wundermaschinen gebaut, von denen ich dir eines
Tages erzählen werde, Wundermaschinen, sage ich dir, mit denen man effektiv und realiter den Lauf der
Natur zu ändern vermag. Doch wehe, wenn sie in die Hände von Leuten fallen, die sie zur Ausweitung ihrer
irdischen Macht benutzen oder zur Befriedigung ihrer Besitzgier! In Kathai, so ist mir berichtet worden, soll
es einem Weisen gelungen sein, ein Pulver herzustellen, das bei Berührung mit Feuer einen gewaltigen Knall
und eine große Flamme hervorbringt und alle Dinge im Umkreis von vielen Klaftern zerstört. Ein treffliches
Mittel, wenn es zur Urbarmachung des Bodens benutzt wird, etwa um Flüsse umzuleiten oder um
Felsbrocken zu zertrümmern. Was aber, wenn es jemand benutzt, um seinen persönlichen Feinden zu
schaden?«
»Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es sich um Feinde des Gottesvolkes handelt«, meinte
Nicolas fromm.
»Ja, vielleicht«, nickte William. »Aber wer ist heute der Feind des Gottes Volkes? Ludwig der Kaiser oder
Johannes der Papst?«
»Oh Gott, nein!« rief Nicolas erschrocken aus. »So was Schwieriges möchte ich nicht entscheiden
müssen!«
»Siehst du?« sagte William. »Manchmal ist es ganz gut, wenn gewisse Geheimnisse unter okkulten
Reden verborgen bleiben. Die Geheimnisse der Natur werden nicht in Ziegen- und Rinderhäuten
aufbewahrt. Aristoteles sagt im Buch der verborgenen Dinge, wenn man zu viele Geheimnisse der Natur und
der Kunst verrät, zerbricht ein himmlisches Siegel, und viele Übel könnten die Folge sein. Das soll nun gewiß
nicht heißen, daß die Geheimnisse niemals aufgedeckt werden dürften, wohl aber, daß es allein den
Wissenden und Gelehrten zukommt, über das Wie und Wann zu entscheiden.«
»Und deswegen ist es gut, daß an Orten wie diesem hier«, sagte Nicolas, »nicht alle Bücher für jedermann
zugänglich sind.«
»Das ist nun wieder etwas ganz anderes«, widersprach William. »Man kann durch zu große
Geschwätzigkeit sündigen und durch zu große Zurückhaltung. Ich wollte nicht sagen, daß die Quellen der
Wissenschaft unter Verschluß bleiben müßten. Im Gegenteil, das wäre sogar ein großes Übel. Ich wollte
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sagen, daß bei Geheimnissen, aus denen sich Gutes wie Böses ergeben kann, der Gelehrte das Recht und
die Pflicht hat, sich einer dunklen Sprache zu bedienen, die nur seinesgleichen verständlich ist. Die Wege
der Wissenschaft sind verschlungen, und es ist schwierig, die guten von den bösen zu unterscheiden. Und
oft sind die Gelehrten unserer Tage nur Zwerge auf den Schultern von Zwergen.«
Die liebenswürdige Unterhaltung mit meinem klugen Meister hatte den guten Nicolas wohl zu
Vertraulichkeiten ermuntert, jedenfalls zwinkerte er ihm zu (wie um zu sagen: wir beide verstehen uns, wir
sprechen von denselben Dingen) und sagte mit einem Seitenblick zum Aedificium hinüber: »Dort oben sind
die Geheimnisse der Wissenschaft gut geschützt durch allerlei raffinierten Zauber . . .»
»Ach ja?« meinte William mit gespielter Gleichgültigkeit. »Du meinst sicher verriegelte Türen, strenge
Verbote, Drohungen und dergleichen?«
»Oh nein, mehr . . .«
»Was zum Beispiel?«
»Nun ja, ich weiß nicht genau, ich beschäftige mich mit Gläsern und nicht mit Büchern, aber in der Abtei
erzählt man sich . . . seltsame Geschichten.«
»Was für welche?«
»Seltsame eben. Zum Beispiel von einem Mönch, der sich nachts in die Bibliothek wagte, um ein Buch
zu suchen, das Malachias ihm nicht geben wollte, und der dann auf einmal Schlangen und Männer ohne
Köpfe und Männer mit zwei Köpfen sah. Fast wäre der Ärmste verrückt geworden in dem Labyrinth . . .«
»Warum sprichst du bei diesen Dingen von Zauberei und nicht von teuflischen Erscheinungen?«
»Ich bin zwar ein ungebildeter Handwerker, aber so ungebildet bin ich nun auch wieder nicht. Der Teufel
(Gott schütze uns!) würde doch einen Mönch nicht mit Schlangen und zweiköpfigen Männern in
Versuchung fuhren. Allenfalls mit lasziven Visionen, wie er es bei den heiligen Vätern in der Wüste getan
hat. Und außerdem, wenn es von Übel ist, daß ein Mönch gewisse Bücher anrührt, warum sollte der Teufel
dann diesen Mönch daran hindern, Übles zu tun?«
»Ein gutes Enthymem«, gab William zu.
»Und schließlich noch etwas: Als ich vor einiger Zeit die Fenster im Hospital reparierte, habe ich ein
bißchen in Severins Büchern geblättert, und da war ein Buch der Geheimnisse, ich glaube von Albertus
Magnus, an dem mich ein paar seltsame Miniaturen reizten, und da habe ich eine Seite gelesen, auf der
geschrieben stand, womit man den Docht einer Öllampe einreiben kann, so daß er Visionen macht, wenn
man den Rauch einatmet. Du wirst bemerkt haben (oder vielmehr, du wirst es noch nicht bemerkt haben,
weil du noch keine Nacht in unserer Abtei verbracht hast), daß der Oberstock des Aedificiums in der Nacht
irgendwie erleuchtet ist, jedenfalls scheint aus den Fenstern an manchen Stellen ein flackerndes Licht. Viele
haben sich schon gefragt, was das sein mag, manche haben von Irrlichtern gesprochen, andere von den
Seelen der früheren Bibliothekare, die an den Ort ihres einstigen Wirkens zurückkehren. Viele glauben hier
so was. Ich glaube eher, daß es Lampen sind, die jemand präpariert hat, so daß sie Visionen machen. Weißt
du, wenn du zum Beispiel das Ohrenschmalz eines Hundes nimmst und den Docht damit einreibst, dann
meint jeder, der den Rauch einatmet, daß er den Kopf eines Hundes hätte, und wenn er jemanden bei sich
hat, sieht er ihn mit einem Hundekopf. Und es gibt eine Salbe, die macht, daß alle, die in die Nähe der Lampe
kommen, sich riesengroß wie Elefanten wähnen. Und mit den Augen einer Fledermaus und zwei Fischen,
deren Namen ich nicht mehr weiß, und dazu einer Wolfsgalle kannst du einen Docht machen, dessen Rauch
dich die Tiere sehen läßt, deren Fett du genommen hast. Und mit dem Schwanz einer Eidechse kannst du
alle Dinge um dich herum wie aus Silber erscheinen lassen, und mit dem Fett einer schwarzen Schlange und
einem Stück Leichentuch erscheint dir das Zimmer ganz voller Schlangen. Ich weiß das. Es gibt da jemanden
in der Bibliothek, der ist sehr schlau . . .«
»Aber könnten das nicht die Geister der verstorbenen Bibliothekare sein? Vielleicht veranstalten sie
diesen ganzen Zauber mit Lampen und Dochten?«
Nicolas erstarrte wie vom Donner gerührt. »Donnerwetter, daran habe ich nicht gedacht. Vielleicht sind
sie es. Gott schütze uns! Aber ich muß mich jetzt sputen. Es ist spät geworden, die Vesper hat schon
begonnen. Gehabt euch wohl!« Sprach's und eilte davon in die Kirche.
Wir setzten unseren Rundgang fort. Rechts lagen die Unterkünfte der Pilger und der Kapitelsaal mit dem
Garten, links die Olivenpressen, die Mühle, die Speicher, der Weinkeller und das Novizenhaus. Und überall
sahen wir Mönche zur Kirche eilen.
Der Name der Rose – Erster Tag
61
»Was haltet Ihr von Nicolas' Worten?« fragte ich William.
»Ich weiß nicht. Sicher ist, daß in der Bibliothek etwas vorgeht, und ich glaube nicht, daß es die Geister
der verstorbenen Bibliothekare sind . . .«
»Warum nicht?«
»Weil sie, wie ich annehme, doch wohl so tugendhaft waren, daß sie jetzt eher im Himmel sitzen und das
Antlitz der göttlichen Weisheit schauen, wenn dir diese Antwort genügt. Was die Lampen betrifft, so werden
wir ja sehen, ob es dort welche gibt. Und was die magischen Salben betrifft, von denen uns unser wackerer
Glasermeister erzählt hat, so gibt es einfachere Methoden, um Visionen hervorzurufen, und Severin kennt
sie genau, wie du heute bemerkt hast. Sicher ist, daß jemand in dieser Abtei die Mönche partout daran
hindern will, nachts in die Bibliothek einzudringen, und daß es viele trotzdem versucht haben.«
»Und das Verbrechen, das wir untersuchen, hat mit diesen Dingen zu tun?«
»Verbrechen? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu dem Schluß, daß Adelmus sich
selber umgebracht hat.«
»Wieso?«
»Erinnerst du dich an heute morgen, als wir den Kehrweg unter dem Ostturm hinaufstiegen und ich die
Müllhalde sah? An jener Stelle fand ich die Spuren eines kleinen Erdrutsches: Ganz offensichtlich war ein
Teil des lockeren Erdreichs, ungefähr dort, wo der Müll sich häufte, abgerutscht und den Steilhang
hinuntergeglitten bis unter den Turm. Deswegen erschien uns vorhin, als wir über die Mauer
hinunterblickten, der Müll so wenig mit Schnee bedeckt: Er war gerade nur vom Schnee der letzten Nacht
überzogen, nicht aber von dem der Tage zuvor. Was nun die Leiche des armen Adelmus betrifft, so hat uns
der Abt gesagt, daß sie über scharfe Felsvorsprünge gefallen sein mußte. Doch unter dem Ostturm wachsen
Pinien. Die Felsen sind genau an dem Ort, wo die Mauer im Hinterhof an den Turm stößt und der Abfall
hinuntergekippt wird.«
»Und weiter?«
»Nun ja, wäre es nicht . . . wie soll ich sagen . . . weniger aufwendig für unser Kombinationsvermögen,
wenn wir annähmen, daß Adelmus sich aus Gründen, die noch zu klären sein werden, kraft eigenen
Entschlusses von jener Mauerbrüstung gestürzt hat, über die Felsen hinuntergefallen und schließlich, tot
oder tödlich verletzt, im Müll gelandet ist? Und daß dann ein Erdrutsch, ausgelöst durch den Sturm jener
Nacht, den Müll und einen Teil des Bodens mitsamt dem Körper des Unseligen bis unter den Ostturm
gespült hat?«
»Warum sagt Ihr, daß diese Annahme weniger aufwendig für unser Kombinationsvermögen sei?«
»Mein lieber Adson, man soll die Erklärungen und Kausalketten nicht komplizierter machen, als es
unbedingt nötig ist. Wenn Adelmus aus dem Ostturm gefallen wäre, müßtejemand in die Bibliothek
eingedrungen sein, ihn niedergeschlagen haben, damit er keinen Widerstand leistete, es dann fertiggebracht
haben, mit dem leblosen Körper auf den Schultern zu einem Fenstersims hochzuklettern, das Fenster zu
öffnen und den Körper schließlich hinauszuwerfen. Bei meiner Hypothese genügen Adelmus, sein
Todeswille und ein kleiner Erdrutsch. Alles erklärt sich mit einer viel geringeren Anzahl von Elementen.«
»Aber warum sollte er sich umgebracht haben?«
»Warum sollte ihn jemand anders umgebracht haben? In jedem Fall müssen wir Gründe suchen. Und ich
bin sicher, daß es welche gibt. Im Aedificium herrscht dicke Luft, du kannst sie förmlich mit Händen greifen,
jeder verschweigt uns etwas. Bislang haben wir nur ein paar vage Andeutungen über eine besondere
Beziehung zwischen Adelmus und Berengar mitbekommen. Wir sollten also den Bibliothekarsgehilfen im
Auge behalten.«
Bei diesen Worten bogen wir um die Ecke und sahen, daß der Vespergottesdienst gerade zu Ende war.
Alles strömte aus der Kirche, die Knechte und Diener kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, die Mönche
begaben sich ins Refektorium. Es war inzwischen ganz dunkel geworden und hatte zu schneien begonnen
– ein leichter Schneefall mit kleinen weichen Flocken, der wohl die ganze Nacht lang anhielt, denn am
nächsten Morgen war das ganze Gelände mit einem weißen Schleier bedeckt, wie ich noch berichten werde.
Ich hatte Hunger und freute mich auf das Essen.
Der Name der Rose – Erster Tag
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ERSTER TAG
KOMPLET
Worin William und Adson die üppige Gastfreundlichkeit des Abtes genießen
und die grimmige Konversation mit Jorge.
Das Refektorium erstrahlte im Schein großer Fackeln. Die Tische der Mönche waren zu einer langen
Reihe geordnet, an deren oberem Ende, quergestellt in Form eines T-Balkens und erhöht auf einem breiten
Podest, der Tisch des Abtes stand. Am unteren Ende erhob sich ein Pult, an welches bereits der Mönch
getreten war, der die Lesung während der Mahlzeit vornehmen sollte. Der Abt erwartete uns neben einem
Wasserbecken mit einem weißen Tuch in der Hand, um uns die Hände zu trocknen nach der Waschung, wie
es die uralte Regel des heiligen Pachomius gebot.
Alsdann bat er William an seinen Tisch und gewährte auch mir dieses Privileg, jedenfalls für diesen ersten
Abend, wie er sagte, da ich, wiewohl nur ein Benediktinernovize, gleichfalls ein neuer Gast der Abtei sei. An
den folgenden Tagen, so gab er mir väterlich zu verstehen, könne ich dann ja zwischen den Mönchen Platz
nehmen oder, wenn mein Meister mir eine besondere Aufgabe anvertraut habe, vor oder nach der
gemeinsamen Mahlzeit in der Küche speisen, wo die Köche sich meiner annehmen würden.
Die Mönche standen allesamt stumm hinter ihren Stühlen, das Haupt verhüllt in der Kapuze und die
Hände gefaltet unter dem Skapulier. Der Abt trat an seinen Tisch und sprach das Benedicite, woraufhin der
Cantor am Pult das Edent pauperes intonierte. Dann gab der Abt seinen Segen, und alle setzten sich.
Die Regel unseres Ordensgründers sieht eine recht karge Speisung der Mönche vor, stellt es aber ins
Ermessen des Abtes, ihnen mehr zu gewähren, wenn es ihn gutdünkt. Heutzutage wird freilich in unseren
Abteien meistens recht ausgiebig den Genüssen des Gaumens gefrönt, und ich spreche hier nicht nur von
jenen Klöstern, die sich leider in Schlemmerhöhlen verwandelt haben. Denn auch in denen, die sich
weiterhin an den Kriterien der Gottesfurcht und der Buße orientieren, wird den Mönchen, die sich fast alle
der schweren Arbeit des Geistes widmen, eher solide Nahrung geboten. Andererseits war der Tisch des
Abtes seit jeher schon privilegiert, auch weil nicht selten Gäste dort sitzen, die man besonders ehren will,
und die Klöster sind stolz auf die reichen Erzeugnisse ihrer Felder und Ställe sowie auf die Kunst ihrer
Küchenmeister.
Während des Essens schwiegen die Mönche, wie es die Regel gebot; wenn es erforderlich war,
verständigten sie sich mit den üblichen Fingerzeichen. Die Novizen und jüngeren Mönche wurden zuerst
bedient, sobald die für alle bestimmten Speisen den Tisch des Abtes passiert hatten.
Am Tisch des Abtes saßen außer uns der Bibliothekar, der Cellerar und die beiden ältesten Mönche, Jorge
von Burgos, der blinde Greis, den wir bereits im Skriptorium kennengelernt hatten, und der steinalte
Alinardus von Grottaferrata, ein nahezu Hundertjähriger, zittrig und schwach auf den Beinen und, wie mir
schien, geistig ein wenig abwesend. Er sei, so sagte der Abt uns leise, schon als Novize in dieser Abtei
gewesen und habe sein ganzes Leben hier verbracht; er könne sich an Ereignisse aus mehr als achtzig Jahren
erinnern. Der Abt sagte uns das halb flüsternd zu Beginn der Mahlzeit, danach hielt er sich im wesentlichen
an den Gebrauch unseres Ordens und folgte der Lesung schweigend. Im wesentlichen, denn, wie gesagt,
am Tisch des Abtes nahm man sich schon mal die eine oder andere Freiheit heraus, und so kam es vor, daß
wir die Speisen lobten, die uns dargereicht wurden, indes der Abt die Qualitäten seines Olivenöls rühmte
oder auch seines in der Tat vorzüglichen Weines. Einmal sogar, als er uns nachschenkte, zitierte er jenes
Kapitel der Regel des heiligen Benedikt, in welchem der Ordensgründer bemerkt, daß der Wein zwar gewiß
nichts für Mönche sei, doch da man die Mönche in unseren Zeiten nicht davon überzeugen könne, sollten
sie wenigstens nicht bis zur Sättigung trinken, denn der Wein bringe, wie schon der Ekklesiast hervorhob,
sogar die Weisen zur Apostasie. Und man bedenke: Benedikt sagte »in unseren Zeiten« und bezog sich
damit auf die seinen, die heute weit zurückliegen. Wie anders waren bereits die Zeiten, da wir in jener Abtei
am Tische des Abtes saßen, nach soviel Sittenverfall seit der Gründung des Ordens (und ich spreche hier gar
nicht von unseren heutigen Zeiten, da ich dies niederschreibe, obwohl man in Melk vorwiegend Bier trinkt)!
Kurzum, wir tranken. Zwar nicht im Übermaß, aber auch nicht ohne ein gewisses Wohlgefallen.
Dazu aßen wir frischen Schweinebraten vom Spieß, und mir fiel auf, daß man für die anderen Speisen
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nicht tierisches Fett noch Rapsöl genommen hatte, sondern das feine Olivenöl aus den Ländereien, die der
Abtei in den sonnigen Tälern drunten auf der Südseite des Gebirges gehörten. Der Abt ließ uns von einem
knusprigen Hähnchen kosten, das speziell für seinen Tisch zubereitet worden war, und ich bemerkte, daß er
etwas sehr Seltenes besaß: eine kleine metallene Gabel, deren Form mich an Williams Lesegerät erinnerte.
Zweifellos wollte er sich als Mann von nobler Herkunft nicht die Hände an den fettigen Speisen besudeln.
Er bot uns sein Utensil sogar zur Benutzung an, zumindest um das Fleisch von der großen Platte zu nehmen
und es auf unsere Teller zu legen. Ich lehnte dankend ab, doch William nahm es gern und bediente sich
dieses vornehmen Instrumentes mit zwangloser Eleganz, als ob er dem Abt beweisen wollte, daß die
Franziskaner keineswegs immer Leute von plumpen Manieren und niederer Herkunft sind.
In meiner Begeisterung über all diese Speisen (nach mehreren Tagen der Wanderschaft, in denen wir uns
ernährt hatten, so gut es eben ging) war meine Aufmerksamkeit für die fromme Lesung ein wenig schwächer
geworden. Sie wurde aufs neue geschärft durch ein heftig zustimmendes Grunzen des alten Jorge, das, wie
ich gleich daraufmerkte, einer Stelle aus der Regel des heiligen Benedikt galt. Einer Stelle, die den gestrengen
Jorge zweifellos sehr befriedigen mußte, wenn man bedenkt, was er am Nachmittag im Skriptorium gesagt
hatte. Denn der Vorleser las gerade: »Lasset uns tun, was der Prophet verkündet: ›Ich sagte, behüten will ich
meine Wege, daß ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich stellte an meinen Mund eine Wache; stumm blieb
ich, demütigte mich und schwieg sogar vom Guten.‹ Hier lehrt uns der Prophet, daß man dem Schweigen
zuliebe bisweilen sogar der guten Rede entsagen soll. Um wieviel mehr muß man dann um der Sündenstrafe
willen das böse Reden vermeiden!« Und weiter hieß es: »Leichtfertige Spaße aber und albernes oder zum
Lachen reizendes Geschwätz verdammen wir allezeit und überall, und keinem Jünger erlauben wir, zu derlei
Reden den Mund zu öffnen.«
»Jawohl, und das gilt auch für die Marginalien, von denen wir heute sprachen«, konnte sich Jorge nicht
enthalten, leise zu kommentieren. »Wie Johann Chrysostomus sagte: Christus hat nie gelacht!«
»Nichts in seiner menschlichen Natur untersagte es ihm«, warf William ein, »denn das Lachen ist, wie
uns die Theologen lehren, dem Menschen eigentümlich.«
»Forte potuit, sed non legitur eo usus fuisse«, sagte Jorge mit fester Stimme, ein Diktum von Petrus Cantor
zitierend.
»Manduca, iam coctum est«, murmelte William.
»Was?« fragte Jorge verwirrt, offenbar in der Meinung, William spreche von einem Braten, den man
essen solle, solange er knusprig ist.
»Diese Worte sprach, wie Ambrosius berichtet, der heilige Lorenz auf dem Feuerrost, als er seine Henker
aufforderte, ihn auf die andere Seite zu drehen, wie auch Prudentius in seinem Peristephanon zu berichten
weiß«, sagte William mit der Miene eines Heiligen. »Sankt Lorenz war also durchaus imstande, zu lachen
und Spaße zu machen, sei's auch nur, um seine Feinde zu demütigen . . .«
»Was nur beweist, wie nah das Lachen dem Tod und dem Verderben des Körpers ist«, knurrte Jorge, und
ich muß zugeben, daß er wie ein guter Logiker argumentierte.
An diesem Punkt mahnte der Abt uns gütig zu schweigen. Als das Mahl beendet war, erhob er sich und
stellte William den Mönchen vor. Er lobte seine Weisheit, hob seinen Scharfsinn hervor und erklärte den
Versammelten, daß er ihn gebeten habe, den Tod des Adelmus zu untersuchen. Die Brüder seien mithin
gehalten, seine Fragen getreulich zu beantworten und die ihnen Unterstellten in der ganzen Abtei
anzuweisen, ein gleiches zu tun. Auch sollten sie ihm die Untersuchung soweit wie möglich erleichtern –
sofern er nicht etwas von ihnen verlange, was gegen die Ordnung des Klosters verstoße, in welchem Falle
sie vorher seine, des Abtes, Erlaubnis einholen müßten.
Als die Mahlzeit beendet war, standen die Mönche auf, um sich zur Komplet in den Chor zu begeben.
Sie zogen ihre Kapuzen über und ordneten sich vor der Tür zu einer Reihe. Dann bewegten sie sich in langer
Prozession hinaus und über den Friedhof durchs Nordportal in die Kirche.
Wir gingen neben dem Abt. »Zu dieser Stunde, nicht wahr, wird das Aedificium verschlossen?« fragte
William.
»Sobald die Diener das Refektorium und die Küche gereinigt haben, schließt Malachias eigenhändig
beide Pforten und verriegelt sie von innen.«
»Von innen? Und wo geht er dann hinaus?«
Der Abt sah William streng ins Gesicht und schwieg. »Zweifellos schläft er nicht in der Küche«, sagte er
schließlich schroff und beschleunigte seinen Schritt.
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»Gut, gut!« flüsterte William mir zu. »Es gibt also noch einen anderen Eingang, und den sollen wir nicht
kennen.« Ich grinste, stolz über diese treffliche Deduktion meines klugen Meisters, aber der schalt mich leise:
»Lach nicht! Du hast doch gemerkt, in diesen Mauern hält man nicht sehr viel vom Lachen!«
Wir traten in den Chor. Nur ein einziger Leuchter brannte, hoch auf einem schweren bronzenen Dreifuß
von doppelter Mannesgröße. Die Mönche begaben sich schweigend ins Chorgestühl, während der Vorleser
aus einer Homilie des heiligen Gregor las.
Als alle versammelt waren, gab der Abt ein Zeichen, und der Cantor intonierte Tu autem Domine miserere
nobis. Der Abt respondierte Adjutorium nostrum in nontine Domini, und alle sangen gemeinsam Qui fecit
coelum et terram. Dann folgte das Psalmensingen: Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit; Danken
will ich dir, Herr, von ganzem Herzen; Auf, lobet den Herrn, alle Knechte des Herrn!
William und ich hatten nicht im Chorgestühl Platz genommen, sondern uns in das Hauptschiff
zurückgezogen. Dort sahen wir plötzlich Malachias aus dem Dunkel einer Seitenkapelle auftauchen.
»Merk dir die Stelle«, raunte William mir zu. »Vielleicht ist da ein Gang, der zum Aedificium fuhrt.«
»Unter dem Friedhof hindurch?«
»Warum nicht? Es muß sogar, wenn man es recht bedenkt, irgendwo ein Ossarium geben, Katakomben
oder dergleichen. Es kann doch unmöglich sein, daß alle Mönche, die in den Jahrhunderten hier gestorben
sind, allein auf diesem kleinen Friedhof begraben wurden.«
»Ja wollt Ihr denn wirklich nachts in die Bibliothek eindringen?« fragte ich erschrocken.
»Wo die Geister verstorbener Mönche umgehen? Wo Schlangen und mysteriöse Irrlichter sind? Nein,
lieber Adson. Ich hatte zwar heute morgen daran gedacht, nicht aus Neugier, sondern weil ich mich fragte,
wie Adelmus gestorben sein könnte. Aber jetzt, da ich zu einer logischeren Erklärung neige, will ich, wenn
ich alles in allem bedenke, die Consuetudines dieser Abtei respektieren.«
»Warum wollt Ihr dann aber wissen, wie man in die Bibliothek gelangt?«
»Weil die Wissenschaft, mein lieber Adson, nicht nur darin besteht, zu wissen, was man tun muß oder
kann, sondern auch, was man tun könnte, aber lieber nicht tun sollte. Deswegen sagte ich vorhin zu unserem
guten Glasermeister, daß der Wissende die Geheimnisse, die er aufdeckt, sorgsam hüten muß, damit nicht
andere schlechten Gebrauch davon machen. Aber aufdecken muß er sie dennoch, und diese Bibliothek sieht
mir ganz so aus, als ob die Geheimnisse dort eher zugedeckt blieben.«
Mit diesen Worten traten wir aus der Kirche, denn der Gottesdienst war zu Ende. Wir fühlten uns beide
sehr müde und gingen in unsere Zellen. Ich rollte mich in meinen Winkel, den William scherzhaft meinen
loculus nannte, und schlief sofort ein.
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